Interessant, dass du das so erlebst... bei mir war es genau umgekehrt! Ich komme von der (klassischen) Gitarre und der Wechsel zum Klavier war eine Offenbarung.
Gott sei Dank hat mich niemand mit klassischem Gitarren-Unterricht gequält, trotz daß ich auf der Konzertgitarre gestartet bin. Sprich: Obwohl ich Noten flüssig lesen kann, bin ich mit denen auf der Gitarre noch nicht in Berührung gekommen - außer für den Gesang.
Musiktheoretische Prinzipien, die ich immer mühsam verkopft versuchte zu verstehen, lagen plötzlich vor mir wie ein offenes Buch. Wie bildet man Akkorde in Dur und Moll? Auf dem Klavier sooo einfach, da zähle ich einfach 123 und dann 1234 Tasten (oder umgekehrt...), klare Sache! Ich brauche keinen einzigen Akkord "lernen" (üben natürlich schon), alle sind sie ganz offensichtlich. Ob Fis7, Csus4... braucht einen auf dem klavier alles nicht schrecken, nur mal kurz Tasten zählen, keine Tabellen nötig und verstehen sogar meine Kinder... Tonleitern, Lagen, so einfach, so logisch. Auf der Gitarre so kompliziert!
Da ist der drastische Unterschied: Ich zähle nicht, ich höre. Ich höre, ob ich in Dur oder Moll unterwegs bin. Und wenn ich einen Grundakkord zum 7, maj7, sus2, sus4 usw. umbaue, dann muß ich das gezwungenermaßen tatsächlich raushören, weil man sich eben nicht hunderte verschiedene Griffe merken kann. Tonleitern brauche ich nicht, denn das Melodiespiel macht die Stimme (oder das Klavier).
Wenn ich bestimmte Töne zum Improvisieren brauche: auf dem Klavier liegen sie vor mir! In allen Oktaven gleich, hübsch geordnet, auch noch in schwarz und weiss sortiert... Aber wo war nochmal das G in der 5. Lage auf der Gitarre???
Ich weiß beim Improvisieren nicht einmal, was das aufgeschrieben ist, was ich gerade spiele. Das geht komplett nach Gehör.
Etwas kompliziertere Stücke zum ersten Mal spielen - auf der Gitarre eine Detektivarbeit. In welcher Lage spiel ichs, damit ich es greifen kann?
Fazit: Klassischer Gitarrenunterricht kann genau schrecklich sein wie klassischer Klavierunterricht.
Anders ist es natürlich, wenn man einfach schnell ein paar passende Akkorde zusammenklampfen will, aber meintest du das so?
Klar, mein Zweitinstrument wurde (gemeinsam mit anderen) entsprechend locker und lässig bespielt, wie du das abwertend bezeichnest. Denn genau damit habe ich mir einen sehr direkten Zugang zur Musik erarbeitet und gleichzeitig sehr viel für meine Gehörbildung getan, ohne daß ich mich dafür irgendwie musiktheoretisch reinhängen mußte. Zugleich habe ich noch ein bißchen Singen gelernt. (Liedbegleitung war auch mein Anlaß für den Instrumentenwechsel.)
Das technisch anspruchslose "Rumgeklampfe" hat mich auch am Klavier massiv weitergebracht. Denn ich kann jetzt Spielfehler raushören, statt sie auf der Tastatur ablesen zu müssen. Das wäre vielleicht mit dem einer Foren-Koryphäe als KL in der Kindheit sicher alles anders gelaufen, aber von so einer bin ich offenbar an meinem zweiten Instrument nicht abhängig.