Mein Ceterum Censeo ist ja der Film "Rhythm Is It" (unbedingt anschauen!).
Dort ist dokumentiert, wie man sich NULL nach den "Bedürfnissen" und Wünschen der Jugendlichen gerichtet hat, im Gegenteil: mit ihnen etwas gemacht hat, was nach den Glaubenssätzen heutiger Pädagogik deren Bedürfnissen und deren Lebenswelt diametral entgegengesetzt ist. Mit durchschlagendem Erfolg.
Das zeigt: Das "Was" ist letztlich sekundär. Entscheidend sind a) die klare, strenge, konsequente Rahmensetzung und b) das "Wie", die Art und Qualität der Durchführung.
Lieber hasenbein,
was für Schlussfolgerungen man aus diesem sehr sehenswerten Film zieht, ist offensichtlich unterschiedlich. Ich ziehe da z.B. Schlussfolgerungen, dass Menschen, hier Jugendliche, ein Angebot brauchen, das in ihnen Bedürfnisse wachsen lässt, die vorher im Verborgenen geschlummert haben.
Dieses Angebot war hier ein sehr starkes. Es wurde viel Geld investiert, das Projekt stand im Zentrum der Öffentlichkeit, die Schüler durften mit dem privilegiertesten Orchester Deutschlands arbeiten und bekamen mit Maldoom einen hervorragenden Tanzpädagogen, der sehr viel Erfahrung mit solchen Projekten hatte und der sich dort engagierte, weil er es wollte. Er sagte:
"Diese Möglichkeit, als Katalysator Menschen zu ermöglichen, einen positiven Wandel in ihrem Leben herbeizuführen, war für mich faszinierend. Denn das hatte ich mir immer gewünscht, als ich als Jugendlicher gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt demonstrierte." und
"Die Schule passte sich an meine Arbeitsbedingungen an, das war natürlich ideal. In anderen Fällen muss ich mich auch anpassen, aber ich lehne es grundsätzlich ab, in dem Vierzig-Minuten-Rhythmus einer Schulstunde zu arbeiten. Ich brauche mindestens drei bis sechs Stunden an einem Stück, und das an zwei oder drei Tagen die Woche für den Zeitraum eines Monats. Anders kann ich zu den Schülern nicht diesen intensiven Kontakt aufbauen. Sie sind zu vielen Einflüssen ausgesetzt, da müsste ich sonst immer wieder von vorne anfangen. So kann man nicht sinnvoll arbeiten."
Er hatte ein immenses Zutrauen zu den Schülern und dort trifft sich seine Einstellung mit meiner.
Viele in diesem Faden, auch du, urteilen sehr negativ über Menschen, Kinder, Jugendliche, die sich nicht so benehmen, wie sie es erwarten und für richtig befinden. Eine solche Einstellung und Kommunikation verbaut aus meiner Sicht jeglichen Zugang zu diesen Menschen. Ohne dieses Zutrauen, dass in der humanistischen Psychologie halt so ausgedrückt wird
„Keiner weiß besser, was ihm gut tut und für ihn notwendig ist, als der Betroffene selbst. Wir können einander also nicht beibringen, was für uns gut ist. Nicht mit noch so ausgeklügelten Techniken. Aber wir können einander dabei unterstützen, es selbst herauszufinden.“
(Schmid, Peter F.:
Der personenzentrierte Ansatz Carl R. Rogers)
hätte das Projekt nicht funktioniert.
Es sind auch Schüler abgesprungen bei Maldoom. Aber die meisten haben begriffen, welche Chance sich ihnen bot mit diesem Angebot! Plötzlich fühlten und merkten sie, "ich kann ja was"! Das Selbstvertrauen, das sie dabei erworben haben, wirkte sich auch auf die anderen Bereiche ihres Lebens aus.
Aber dazu brauchte es von Seiten Maldooms einen unbedingten Willen, solchen Schülern zu helfen (starkes soziales Interesse), eine sehr große Klarheit (kein Lob, keine Strafen), eine klare und kompromisslose Vorstellung von der künstlerischen Arbeit und den dazu nötigen Voraussetzungen und das erwähnte bedingungslose Zutrauen zu den Teilnehmern, die er nicht in Schubladen steckte.
Dazu zitiere ich aus einem Interview -
https://oya-online.de/article/read/91.html :
"Wir stehen jetzt hier in Europa vor der Herausforderung, die »UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« umzusetzen, die allen Kindern das Recht am gemeinsamen Unterricht einräumt. Darüber gibt es in Deutschland gerade eine hitzige Diskussion. Reformpädagogen sehen die Möglichkeit einer Umsetzung dieser UN-Konvention nur in einer radikalen Veränderung des Schulsystems.
"
Die Antwort liegt wahrscheinlich in einer Verbesserung des Unterrichtssystems und in dem Willen, nach neuen Lehrmethoden Ausschau halten. Es braucht aber auch besonders ausgebildete Pädagogen, die sich speziell um solche Kinder kümmern, die ihren eigenen Lernrhythmus haben. Aber ganz sicher können wir alle Kinder in einen gemeinsamen Lernprozess einbeziehen. Ich entscheide zum Beispiel nie, wer an meinen Tanzprojekten teilnimmt, ich nehme alle, die kommen. Ich habe in meinen Tanzprojekten mit Kindern mit Down-Syndrom gearbeitet, sogar mit Kindern, die taub oder stumm waren oder die im Rollstuhl sitzen. Ich sage nicht, dass das einfach wäre, aber wenn man sich anschaut, wie das mit einem künstlerischen Ansatz funktioniert, dann findet man vielleicht ganz neue Wege für den Unterricht. Manche Kinder brauchen sicherlich mehr Aufmerksamkeit, andererseits will man sie auch nicht isolieren. Wir müssen flexibler sein und auch menschlicher denken. Ich sage immer wieder: Es gibt keine Problemkinder, es gibt nur Kinder, die Probleme haben. Es ist ein Problem in dieser Welt, ein Kind zu sein! Wir sollten damit aufhören, Menschen in eine Schublade stecken zu wollen.""
Ich sehe also in allem sehr viel Übereinstimmung mit dem, was ich in diesem Faden gesagt habe! Ich bin auch der Meinung, dass du dir gerade diese letzten Aussagen Maldooms bzgl. des Schubladendenkens sehr zu Herzen nehmen solltest.
Man interpretiert immer gern die Dinge so, dass sie in die eigene Vorstellungswelt passen. Ich nehme mich da nicht aus, versuche aber immer, die Dinge differenziert zu betrachten.
Dort ist dokumentiert, wie man sich NULL nach den "Bedürfnissen" und Wünschen der Jugendlichen gerichtet hat, im Gegenteil: mit ihnen etwas gemacht hat, was nach den Glaubenssätzen heutiger Pädagogik deren Bedürfnissen und deren Lebenswelt diametral entgegengesetzt ist. Mit durchschlagendem Erfolg.
Das zeigt: Das "Was" ist letztlich sekundär. Entscheidend sind a) die klare, strenge, konsequente Rahmensetzung und b) das "Wie", die Art und Qualität der Durchführung.
Ich würde deinen Beitrag also folgendermaßen umschreiben:
"Dort ist dokumentiert, wie man mit einem sehr großen Anreiz, einem ganz besonderen Projekt, verborgene Bedürfnisse der Jugendlichen nach Selbstverwirklichung geweckt hat, die die bisherige Pädagogik und (problembehaftete) Erfahrungswelt der Jugendlichen nicht herausgebracht hat.
Das zeigt: Das "Was" ist letztlich sekundär (
wobei die körperliche Komponente, das Eins-sein des Körpers mit dem künstlerischen Ausdruck sicher von Vorteil war). Entscheidend sind
a) der Wille, ein solches Projekt zu starten und sich dafür zu engagieren, was eine finanzielle und engagierte Vorleistung erfordert, die schon an sich ein Vorschuss an Vertrauen an alle Teilnehmer darstellt
b) bedingungsloses Zutrauen zu den Teilnehmern
c) äußerst klare Kommunikation, die das künstlerische Ergebnis und die künstlerische Arbeit kompromisslos immer an erste Stelle setzt und nie persönlich wird (Angriff...),
d) die Art und Qualität der Durchführung".
Da kann ich keinen Unterschied zu meiner Haltung erkennen. Es ist ganz klar, dass das Projekt deshalb funktionierte, weil die Schüler plötzlich Erfahrungen machten, dass sie viel mehr konnten, als sie dachten. Sie empfanden sich selbst gegenüber plötzlich ungewohnte Gefühle wie Stolz, Begeisterung, Glück, Selbstwirksamkeit. Das brachte etwas in Gang - sie wollten mehr. Also brachte es Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung in Gang, von denen sie bisher nichts gewusst hatten, die aber jeder Mensch besitzt nach der Hypothese Rogers.
Für Pädagogen in der Schule ist allerdings die Situation insofern sehr viel schwieriger, als dass sie nicht sagen können/dürfen, "dann kannst du bei dem Projekt nicht mitmachen". Sie sind mehr auf Kooperation angewiesen, damit der Unterricht funktioniert. Wie sich das auflösen lässt, weiß ich nicht. Du meinst, mehr Strenge wäre wichtig. Ich meine, es müssten andere Rahmenbedingungen geschaffen werden und es müsste mehr Klarheit in der Kommunikation stattfinden, bei der der Lehrer ein authentisches Gegenüber ist, an dessen Erwartungen ähnlich wie bei Maldoom die Schüler nicht vorbeikommen. Das Gordon-Modell ist aus meiner Sicht dazu hervorragend geeignet, gerade bei Konflikten.
Liebe Grüße
chiarina