Ihr Lieben,
Zitat von chiarina:
Eigentlich ist das Wort "Theorie" richtig blöd. Denn sie hat sich ja aus der Praxis ergeben und ist auch letztendlich nur sinnvoll in Verbindung mit der Praxis.
Ja, ja, ja und ja! Man sollte nie vergessen, dass die Musik nicht durch die Theorie geworden ist, sondern die Theorie durch die Musik. Ich kann es auch absolut nachvollziehen, wenn jemandem die Praxis durch zuviel Theorie verleidet wurde - dann wurde die Theorie meiner Ansicht nach aber nicht gut vermittelt. Ich habe hier an der Hochschule ganz hervorragende Dozenten, die das meiner Meinung nach richtig sinnvoll vermitteln. Ich kann natürlich nur von denjenigen berichten, die ich selbst als Dozenten habe, also ist meine persönliche Aussage erstmal auf einen kleinen Kreis beschränkt, zeigt aber doch, dass es immerhin geht, Theorie sehr spannend, praxisnah und vor allem durch die Praxis motiviert zu unterrichten. Egal ob es Harmonielehre, Kontrapunkt, Gehörbildung, Formenlehre oder Werkanalyse ist, meine Dozenten gehen fast immer vom Werk aus zur Theorie, geben zahlreiche Literaturbeispiele, die sie entweder selbst am Klavier oder von CD vorspielen, in denen die Dinge vorkommen, die gerade besprochen werden sollen.
Unser Formenlehre-Dozent hat z.B. jede Stunde mindestens 10 mal wiederholt, dass es ihm um Himmels Willen nicht darum geht, dass wir ihm die Sonatenhauptsatzform oder die "Definition" von was auch immer runterbeten sollen - er hat uns immer extra viele Bsp. mitgebracht, an denen "etwas nicht stimmt" - wo z.B. das Seitenthema nicht in der erwarteten Tonart steht oder ein Komponist um eine Tonart rumschleicht wie die Katze um den heißen Brei, um sich dann doch im letzten Moment irgendwohin abzuwenden; wo nicht klar ist, welches überhaupt das Seitenthema ist; wo unregelmäßige Perioden oder Sätze auftauchen, wo man den Eindruck hat, das Stück beginne auftaktig, während es Überraschung Überraschung beim Blick in die Noten dann doch volltaktig beginnt, so dass man beim ersten Hören auf die Frage nach der Anzahl der Takte erstmal nur dumm schaut und feststellt, dass da was nicht stimmt - usw. Wir haben dann auch immer versucht zu verstehen,
warum da was nicht dem Erwarteten entspricht und das war immer höchst spannend. Ob es nun Sonatenthemen waren, die 11 Takte Platz brauchten, um einer Stelle Raum zu geben, an der die Tonart ins Wackeln kam - ob es Opernpassagen waren, die auf den ersten Blick hin "nur" sehr schöne, perfekte Musik waren, bei denen sich aber beim genaueren Hinhören lauter kleine Konflikte einstellten wie z.B. dass man nicht kapierte, ob es nun volltaktig oder auftaktig war, wieviele Takte eigentlich das Hauptthema hatte usw. und somit den Zustand der Leute auf der Bühne repräsentierten, die nach außenhin ebenfalls den Schein wahrten, von denen aber jeder bis zum Hals in Problemen steckte - viele solcher spannender Stunden hatten wir in unserer Formenlehre. Das war lebendig, das hat uns allen etwas gebracht, auch für unsere eigenen Interpretationen, da unser Dozent beharrlich das Konzept verfolgt hat, uns ein Bewusstsein für all die Besonderheiten in einem Stück zu vermitteln.
Oder in Gehörbildung: Da lernen wir nicht einfach nur die Akkorde und Funktionen wie sie aufgebaut sind, sondern bekommen viele Literaturbsp., in denen ein Komponist gezielt den Klangcharakter einer bestimmten Funktion benutzt - somit kann man sich richtig in den Klang einhören und spürt ihn dann regelrecht, wenn er in einer aufzuschreibenden Kadenz vorkommt.
Ebenso in Harmonielehre: Als wir z.B. die unterschiedlichen Modulationsarten hatten, hat unser Dozent immer gefragt, wie wir ein von ihm vorgespieltes Bsp. hören - es ist ja oft auch nicht eindeutig, es gibt ja Bsp., in denen man die Modulation so oder so hören kann - genau diese Fälle waren ihm immer sehr wichtig und er legte besonderen Wert darauf uns zu zeigen, dass man die Stelle auch ganz unterschiedlich spielen kann, je nachdem, welcher Anteil einem wichtiger erscheint.
Das sind sicherlich Dinge, die ein Amateurmusiker nicht wissen muss (aber sicher wissen darf und sollte, wenn es ihn denn interessiert!). Aber es sind viele Kleinigkeiten, die das Wesen unserer Interpretation ausmachen und die sich auf jeden Zuhörer übertragen, auch wenn dieser keine Ahnung von Musiktheorie hat.
Zitat von NewOldie:
Das klang alles andere als banal, obwohl der kleine Mozart damals noch nicht an die Pedale kam und Satzlehre wohl intuitiv betrieb.
Ha, wunderbares Bsp., das genau das unterstreicht, was Chiarina und ich oben geschrieben haben: Die Theorie kommt aus der Musik und nicht umgekehrt. Außerdem unterstreicht es etwas, das mir selbst immer wieder auffällt und das meine Dozenten auch bestätigen: Auch wir, die wir nicht Mozart sind, haben intuitiv schon soviel von alldem verinnerlicht, dass wir eigentlich zu einem großen Anteil nur noch das alles mit Worten verknüpfen müssen, um es benennen zu können, was wir da hören. Das mag je nach Hörerfahrung und Intensität der Beschäftigung mit Musik unterschiedlich viel sein, aber es sind Grundprinzipien, die immer wieder auftauchen, die sich einem mit jedem Stück Musik, das wir spielen/hören vermitteln und die man (im doppelten Sinne) Stück für Stück lernt.
Mein Vater z.B., der nie Klavierunterricht hatte, hat sich einiges selbst nach Gehör beigebracht - er kann z.B. recht spontan Lieder begleiten, indem er - ohne auch nur irgendeine Ahnung von Tonarten oder gar Harmonielehre zu haben - die Melodie spontan harmonisiert. Ich sehe da staunend und mich freuend zu: Er hört sofort, ob etwas "nicht passt". Oft spielt er was und sagt, dass man an dieser oder jener Stelle das Ganze noch schöner machen könnte, wenn man noch dieses Tönchen reinspielen würde - ich denke mir, ja klar, es ist der Schritt von D8-D7... Oder er steht auf einer Subdominante mit Grundton im Bass und man merkt, dass er nicht direkt zur Dominante gehen möchte und überlegt, was das dazwischen denn wohl sein könnte, was er da im Kopf noch dazwischen hört - er hat keine Ahnung, dass er die Doppeldominante mit Terz im Bass sucht, aber er findet sie und weiß dann, ja, das war das, was er suchte. Das freut mich jedes Mal zu sehen und zu hören.
Genauso saß ich im Fugenseminar, in dem wir Fugen schreiben sollten, ohne vorher je wirklich Kontrapunkt gelernt zu haben (....!!!). Das machte überhaupt nichts, da ich intuitiv genau das richtige getan habe, weil ich ja schließlich den Höreindruck der Bach-Fugen im Ohr und verinnerlicht habe. Es war manchmal wirklich belustigend für meinen Dozenten, wenn ich z.B. völlig ahnungslos sagte: "Auf dieser Zählzeit MUSS dieser Ton kommen im Kontrapunkt" Er: "Richtig - warum? Welches typische Prinzip ist das?" Ich: "Keine Ahnung - es klingt richtig." Passiert ist diese Situation ziemlich am Anfang des Seminars und gemeint war eine Synkopendissonanz... :D Mittlerweile weiß ich natürlich, was das ist, aber am Anfang wusste ich es nur intuitiv, hatte dafür aber noch kein Wort.
Liebe Grüße,
Partita