"Schwüle" gibt es vielleicht im zweiten "Tristan"-Akt
Nun, das ist das Problem, wenn man nicht-konventionalisierte Metaphern verwendet - jeder versteht darunter etwas Anderes. Für mich heißt Schwüle: es gibt zu viel Hochamt im Parzival und zuviel Anleihen beim Caecilienverein. Asketisch - ja, aber zunächst einmal auf der gesanglichen Ebene. Mir ist bis heute nicht klar, warum jemand im Laufe seines Schaffens das Geschehen immer mehr in den Orchestergraben verlegt (warum er das will, verstehe ich schon) und weiterhin darauf beharrt, Musik
theater zu machen. Wagner hätte konsequenterweise ja den Schritt zum arienfreien paganen Oratiorium tun können.
Was den Tristan betrifft, so würde ich persönlich nie die Metapher »Schwüle« mit dem zweiten Akt des Tristan verknüpfen. Für mich ist er am Anfang eher, wenngleich mehr aus der Perspektive der Akteure,
quälend, und die Nervosität dieses quälenden Wartens wird am Anfang des Akts musikalisch wundervoll ausgedrückt. In das quälende Warten wird der Zuschauer im noch höheren Maß dann im dritten Akt einbezogen, weniger dagegen im ersten, sodaß das "Warten" vielleicht wirklich als Klimax konzipiert ist - darüber hab ich nie nachgedacht.
Ob die »Knalleffekte« Konzessionen an die Gattungskonvention sind, weiß ich nicht. Die Flucht in den chaotischen »Mimenschluss« des ersten Akts, der von der tragischen Ironie von Kurvenals Elogium kaum abgemildert wird, ist eine notwendige Konsequenz der vorherigen Liebeseruption (die ist eigentlich die Konzession an die Gattungskonvention), nach welcher ein ín geordneteren Bahnen ablaufener Aktschluß kaum mehr denkbar ist. Wenn Wagner Gottfried sorgfälig gelesen hat, war ihm sicher bewußt, was er um der Ausrichtung auf diesen einen geysirhaften Ausbruch willen alles geopfert hat: das langsame Bewußtwerden der Liebe, die verschlüsselte »Lameir«-Liebeserklärung Isoldes und das schlichte offene Bekenntis Tristans, das den Verstoß gegen alle Standesnormen und die Kapitulation vor der Macht der Eros gleichermaßen einschließt: »ich bin ûzer weges kommen ... in al der werlde enist mir niht / in mînem herzen liep wan ir«, und schließlich die ebenso schlichte und eben deshalb viel mehr ergreifend Antwort Isôts »hêrre, als sît ihr mir.« (11985ff). Eher mißlungen finde ich dasselbe Vorgehen im zweiten Akt, wo das »Mimenschluß«- Konzept mit dem Duell mit Melot sein logisches Ende hätte, der aufzug sich aber danach, um es mit Verdi zu sagen, noch »quälende 10 Minuten« lang hinschleppt, verschuldet von Marke dem Tugendschaf und seinem Enttäuschungsgeheule. Und das nur, weil Wagner, wie so oft, meinte, eine Exposition nachklappen lassen zu müssen - in diesem Falle zu den treuen Diensten Tristans, die den Verrat ex post umso schlimmer erscheinen lassen. Kein mediokrer griechischer Tragiker hätte sich die Chance nehmen lassen, diese treuen Vasallendienste Tristans an den Anfang des zweiten Akts zu stellen, um so einen genuinen dramatischen Konflikt zu konstituieren zwischen Tristans Gehorsam gegenüber dem Gebot der Vasallentreue und dem Gehorsam gegenüber der dämonischen Macht des Eros, in welchem der Sieg des Eros und damit der unvermeidliche Untergang des Protagonisten viel schärfer hervorgetreten wäre. Und deshalb erlaube ich mir gelegentlich die Banauserie - es sei denn, der Marke ist außergewöhnlich gut - nach vollbrachtem Dolchstoß mir einen außergewöhnlich günstigen Startplatz an der Getränketheke zu sichern. Den Schluß des letzten Aktes möchte ich dagegen nicht missen. Nicht wegen seiner - eigentlich nur in der Musik hervortretenden - Sentimentalität, sondern wegen der wundervollen Schlußakkorde nach dem Verstummen Isoldes. An dem Punkt bin ich immer ganz niedergeschlagen, daß es vorbei ist.