Hallo miteinander,
es ist schon ziemlich lange her, (nämlich post 316 vom 1.7.), dass ich hier in diesem Faden eine wissenschaftliche Arbeit verlinkt und zur Diskussion gestellt habe, die sich mit der Begabungsforschung hinsichtlich der Musikalität befasst und versucht, den derzeitigen Kenntnisstand anhand der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur darzustellen. Es handelt sich hierbei um:
http://www.edu.lmu.de/~oerter/index.php?option=com_docman&task=doc_view&gid=39
Leider habe ich erst soeben gesehen, dass Rolf (Beitrag 323) und Chiarina (Beitrag 317) ganz ausführlich auf meinen post geantwortet haben und möchte daher jetzt auch wenn mit Verspätung noch auf diese Antworten eingehen:
@) Rolf
Danke Rolf, dass du dir die Mühe gemacht hast, die komplette Arbeit zu lesen und daraus detailliert zu zitieren.
Du zitierst zum Beispiel aus der Arbeit:
Der Begriff der musikalischen Begabung vereint zwei
unterschiedliche Aspekte in sich: erstens Musikalität als Merkmal
der menschlichen Spezies und zweitens Musikalität als
unterschiedlich ausgeprägte Kapazität bei einzelnen Individuen.
Im Alltagsverständnis entspricht letzteres einer angeborenen
Begabung, die man entweder hat oder nicht hat. Diese Meinung
ist angesichts der empirischen Forschung zur musikalischen
Begabung nicht mehr haltbar. Vielmehr geht es heute um das
komplexe Geflecht von Anlage- und Umweltbedingungen und die
daraus resultierenden (hohen) Leistungen. Ob sich so genannte
"musikalische Genies" wirklich nur quantitativ von anderen
Musikern und musikalischen Laien unterscheiden, lässt sich nach
der heutigen Erkenntnislage nicht sagen.
Diese Erkenntnis liegt ja auch dem von mir aus der Arbeit zitierten und dargestellen Konzept der Genotyp-Umwelt-Interaktion zugrunde. Hier geht man ja auch vom Vorhandensein einer anlagebedingten Begabung aus, die sich dann im Laufe des Lebens auf unterschiedliche Weise
weiterentwickeln kann So wird ja auch ausgeführt, dass
Begabung sich durch Katalysatoren zu musikalischen Talenten entwickelt und dass der entscheidende Vorgang in der Transformation von Begabungskomponenten in Talente besteht
Bezüglich der Annahme einer anlagebedingten Begabung ist weiterhin interessant:
Bei der Intelligenz kann man eindeutig einen substantiellen
Anlagefaktor nachweisen (Plomin et al., 1994). Bei Musik ist der
Nachweis des Anlagepotentials problematisch, da alle messbaren
musikalischen Leistungen sehr stark durch die jeweilige Kultur
bestimmt sind. Die Kultur definiert, was als Musik gilt und
welche relevanten Fertigkeiten durch die Vorgabe von
Instrumenten und Musikstilen ausgebildet werden. Individuelle
Begabungen entwickeln sich in Richtung auf die umgebende
Musikkultur.
Diese Aussage scheint mir etwas fraglich. Definiert wirklich allein die Kultur was als Musik gilt und was dementsprechend musikalische Fähigkeiten sein sollen??
Ich sehe es hier eher wie du:
Zitat von Rolf:
Übrigens leidet eine solche Arbeit am fächerübergreifenden Gegenstand: wie zu lesen ist, ist man auf Experten anderer Fachgebiete angewiesen.
In diesem Zusammenhang zitierst du:
Das kinästhetische Fähigkeitspotenzial
begrenzt letztlich das Ausmaß an motorischer Perfektion. Es ist
aber auch verantwortlich dafür, dass Personen trotz guter
allgemeiner musikalischer Fähigkeiten beim Singen versagen
(sogenannte "Brummer"; Mitchell, 1991; à„Entwicklung des
Singens“). Die ästhetischen Fähigkeiten beziehen sich auf die
Unterscheidung von gut und schlecht dargebotener oder
komponierter Musik (als „gut“ gilt hierbei der Konsens von
Experten) bzw. die Verständnistiefe für musikalische Strukturen.
Meiner Ansicht nach tut sich die Wissenschaft hier einfach etwas schwer damit, festzulegen, was sie genau nachweisen, erkennen und ermitteln soll oder will.
Allerdings ist die neurologische Forschung offenbar - wie die Arbeit zeigt und du zitierst - bereits so weit, dass sie sagen kann:
Neurologische und hormonelle Befunde (Hassler & Gupta,
1993; Hassler, 2000) lassen vermuten, dass sich biologische
Unterschiede zwischen Musikern und Nicht-Musikern frühzeitig,
d. h. bereits pränatal, ausbilden.
Für Pianisten und Geiger, die erst in der Pubertät
mit dem Unterricht beginnen, dürfte keine Entwicklung zu
Hochleistungen mehr möglich sein. Die Ergebnisse aus
Längsschnittstudien von Gordon (1984) legen nahe, dass sich
musikalische Begabung, gemessen mit seinen Inventaren, im
Alter von etwa zehn Jahren stabilisiert
Damit ist ja nun klar, dass mit den 10 000 Übestunden in frühester Jugend begonnen werden muss!
@) Chiarina,
Zitat von Chiarina:
Deshalb, vielleicht auch, weil ich wissenschaftlichen Erkenntnissen sowieso nicht blindlings traue (wie haben die sich auch schon geirrt!) plädiere ich dafür, eine andere, für mich sehr wichtige Eigenschaft von Menschen als Grundlage zu nehmen - die der Erfahrung.
Danke Chiarina, dass du diese Frage auch aus dieser Perspektive betrachtest. Ich denke jeder - und nicht nur Klavierlehrer - hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass es Menschen und insbesondere Kinder gibt, die durch eine besondere Begabung (auf welchem Gebiet auch immer) einfach auffallen. Das sagt uns einfach der gesunde Menschenverstand und die Lebenserfahrung.
So wird ein Klavierlehrer, der z.B. 20 Klavierschüler vor die gleiche Aufgabe gestellt hat, wahrscheinlich 20 verschiedene Ergebnisse erzielen und das wird nicht allein an der Anzahl der Stunden liegen, die der jeweilige Schüler geübt hat.
Eltern werden möglicherweise feststellen, dass ein Kind mit spielender Leichtigkeit Mathematikaufgaben löst, während dem anderen Fremdsprachen scheinbar ohne größeren Aufwand regelrecht zufallen.
In anderen Zusammenhängen fallen möglicherweise Kinder auf, die ohne jegliche einschlägige Ausbildung einfach schön singen, Melodien direkt nachsingen können, schön malen, ein schauspielerisches Talent haben.
Und in dem Moment, wo so etwas auffällt, spielen die 10 000 Stunden überhaupt noch keine Rolle. Die kommen dann irgendwann viel später, wenn und falls der Weg zur Meisterschaft eingeschlagen werden soll!:D
LG
Debbie digitalis