Lieber Dreiklang,
vielen Dank für Deine Antwort.
Schade, daß Du einige Beiträge der letzten Tage zum Teil komplett ediert hast,
um sie dem neueren Diskussionsstand anzupassen. Ich an Deiner Stelle täte das nicht.
Es ist doch auch reizvoll, das Mäandrieren eines solchen Gesprächs nachzuvollziehen,
was durch Deine Selbstzensur erschwert wird.
Kannst Du mir bitte alternativ einen Artikel, oder eine verbale Erklärung darüber geben,
wie die Musikwissenschaft die "Qualität von Musik" definiert? Nur durch den Anspruch
ihrer handwerklichen Gestaltung?
Ich weiß nicht, ob die Musikwissenschaft versucht, die Qualität von Musik zu definieren.
Es ist jedenfalls nicht ihre Aufgabe. Musikwissenschaft oder auch Kompositionslehre
versuchen, die handwerklichen Grundlagen kompositorischer Arbeit zu bestimmen
und hinken dabei der Praxis gewöhnlich um ein paar Jahrzehnte hinterher;
salopp gesagt: Die Verbote von heute sind die Regeln von morgen (und umgekehrt).
Die Diskrepanz zwischen analytischem Befund und musikalischer Wirkung
hat Pierre Boulez, Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker, sehr schön formuliert
(Pierre Boulez: Anhaltspunkte. Essays. Deutsch von Josef Häusler, Kassel 1979,
S.253):
Zitat von Pierre Boulez:
"Die Analysen können Sprache oder Technik zwar beweisen, aber niemals ganz erklären.
Man gibt sich Rechenschaft über den Materialaspekt einer Partitur, doch man ist
ohnmächtig gegenüber der Poetik, deren Schlüssel sie bildet."
Vielleicht kann auch ostentative Gleichgültigkeit eine Emotion sein.
Damit hast Du ein Wesensmerkmal der "Neuen Sachlichkeit" beschrieben:
der frühen Musik Paul Hindemiths oder des Strawinskys der 20er Jahre.
Der Verzicht auf die permanente drastische Kundgabe der eigenen Befindlichkeit,
(wie er zu Zeiten der Spätromantik Brauch war) kann ebenfalls anrühren,
natürlich auch deshalb, weil er nie vollständig gelingt.
Wenn 100 Personen zusammen Papier zerreißen, dann würde für mich rein
der entstehende Klang keine Musik sein. Wenn ein langer Güterzug an einem
Bahnübergang vorbeidonnert, gibt es die verschiedensten komplexen Schallereignisse -
alles das kann sogar einige Minuten lang anhalten, es ist aber keine Musik.
Ebenso wohl nicht die Geräuschkulisse an einem Flughafen.
Aber für andere ist es Musik. Der neueren Musik ist die Idee, Alltagslärm,
Arbeits- oder Maschinengeräusche musikalisch abzubilden, nicht fremd
(Honegger:
Pacifik 231, Mossolow:
Die Eisengießerei ), und hat seine Anfänge
in der frühen Moderne, die die Erfahrung des großstädtischen Menschen,
mehreren akustischen Quellen gleichzeitig ausgesetzt zu sein, in Musik umsetzt:
bei Mahler, Debussy und Ives als Polyphonie mehrerer Klangblöcke, die sich nicht
nur satztechnisch, sondern auch rhythmisch und tonartlich voneinander abheben.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die von den Futuristen erträumte Idee einer
Geräuschmusik verwirklicht, bei den Franzosen mit der
"Musique concrète" ,
deren Erzeugnisse heute etwas dürftig anmuten, bei John Cage, in dessen erweitertem
Musikbegriff jede Art von Frequenz willkommen war, bis hin zu
Steve Reich und
ungezählten Soundbastlern, deren Musik von gesampleten Geräuschen strukturiert wird.
WP (für Dich die Quelle allen Übels, ich weiß) sagt nichts darüber aus,
daß für die Musik zentral sei, daß sie Emotionen auslösen kann.
Ich fürchte, Du mußt damit Deinen Frieden machen. Musik wirkt viel mehr
als nur emotional. Sie wirkt auf die Seele, und das Seelenleben eines Menschen
ist nicht nur von Emotionalität, sondern auch von Rationalität geprägt.
Menschen urteilen emotional - wenn sie die Wahl dazu haben,
und die Entscheidung keine schwerwiegenden Konsequenzen hat.
Manche Menschen urteilen auch dann emotional, wenn die Entscheidung schwerwiegende
Konsequenzen hat (Ausbildung, Lebenspartner, Arbeitsplatz). Andere urteilen rational,
und noch andere versuchen, Gefühl und Vernunft unter einen Hut zu bekommen.
Ich halte es für einen Fehler - um nach diesem überlangen Exkurs aufs Thema
zurückzukommen -, wenn man sich der Musik rein emotional zu nähern versucht.
Bei jedem Menschen spricht Musik das Gefühl an; auch bei mir. Ich trage meine Gefühle
allerdings nicht in die Öffentlichkeit. Intimität und Öffentlichkeit schließen sich aus.
Jedenfalls spricht Musik auch den Intellekt an, und es wundert mich immer,
warum das von so vielen Menschen als Zumutung zurückgewiesen wird.
Herzliche Grüße,
Gomez
.