Und das ist genau mein Problem. Wenn ich singe, kann ich das, was ich höre und mir vorstelle, zumindest teilweise umsetzen. Aber wenn ich ein Instrument spielen möchte, das ich überhaupt noch nicht spielen kann? Und dann soll ich "Hänschen klein" spielen, um das zu lernen? Während ich ganz andere Klänge im Ohr habe, die gern spielen möchte? Das ist sehr frustrierend.
Liebe Annaklena,
du hast ja, wie ich anderen Fäden entnommen habe, keinen Klavierunterricht und aufgrund deiner Wohnsituation keine Möglichkeit, welchen zu nehmen oder Online-Angebote zu nutzen (apropos: könntest du nicht den Radius ausweiten und evtl. lange fahren, um Unterricht zu erhalten? Alle zwei Wochen könnte man doch ein paar Stunden Anfahrt ermöglichen, oder geht das nicht?).
Aus deinem Beitrag spricht eine Menge Frust. Frust darüber, dass du dir Stücke und Klänge gut vorstellen kannst, aber nicht die technischen Mittel besitzt, sie umzusetzen. Deinen Frust kann ich gut verstehen. Aber leider muss ich dir sagen, dass es völlig ohne Unterricht sehr schwierig wird, das zu ändern. Klavierspielen ist eben keine einfache Tätigkeit und du willst ja offensichtlich mehr als nur ein bisschen rumzuprobieren auf dem Klavier.
Wenn ich dich unterrichten würde, würde ich mit dir improvisieren. In Improvisationen kann man sich schon ganz gut ausdrücken und das ganze Klavier samt Pedal nutzen. Du schreibst, dass du musikalisch bist. Musikalische Menschen sind oft in der Lage, einen für sich guten Weg zu finden, auch wenn sie nicht optimale Bedingungen vorfinden. Vielleicht reicht dir diese Idee der Improvisation ja als Anstoß, im Internet gibt es jede Menge darüber, Bücher gibt es auch.
Dann würde ich dir die Basics in Sachen Armführung und Einsatz des Armes zeigen und dies gleich an Stücken wie z.B. Kabalewski op. 39 ausprobieren. Schulen sind aus meiner Sicht für Erwachsene nicht nötig. Wie kommst du auf Hänschen klein? Es lohnt sich allerdings, Lieder nach Gehör zu spielen und sie zu begleiten, welche auch immer.
In kurzer Zeit erlangst du so ein Handwerkszeug, das immerhin für kleine Improvisation und kleinere musikalisch gehaltvolle Stücke ausreicht. Chopin wirst du nach ein paar Wochen nicht spielen können - Geduld gehört auch zum Handwerk.
Wie vermeidet ein ausgesprochen musikalischer Mensch die Frustration, diese Musikalität an einem Instrument nicht ausleben zu können, weil er die Technik noch nicht beherrscht?
Darf ich dir ganz ehrlich sagen, dass ich immer skeptisch bin, wenn sich jemand als so musikalisch bezeichnet und meint, er müsse vor allem nur noch technische Dinge lernen? Das ist nicht böse gemeint, ich glaube dir gern, dass du musikalisch bist. Aber ich selbst zum Beispiel bringe wohl eine musikalische Begabung mit (wobei mich nie interessiert hat, ob ich musikalisch bin oder nicht). Ich hatte aber trotz musikalischer Begabung ungeheuer viel zu lernen und tue es auch heute jeden Tag. Das ist das Wichtigste aus meiner Sicht: dieser unbedingte Wille zu lernen, diese Freude an Musik und das tiefe Bedürfnis, sich in Tönen ausdrücken zu wollen. Und dann ist es egal, wenn man Anfang noch nicht Chopin und Brahms spielt - die Freude an den Klängen überwiegt alles. Ich kann mich an einem einzigen warmen, voll und klangschön gespielten c" erfreuen - das ist eine wichtige Voraussetzung für musikalisches Spiel, behaupte ich mal.
Ich war nie ungeduldig, sondern habe mich bei der Beschäftigung mit den Klängen immer über diese gefreut. Wenn ich dann Stücke hörte, die ich toll fand, aber noch nicht spielen konnte, staunte ich über das, was es alles gab und welche unglaubliche Klangwelt noch auf mich wartete. Das hat mich motiviert, immer weiter zu lernen und zu forschen.
Ohne Lehrer ist das allerdings wie gesagt sehr schwierig und ich kann deinen Frust da gut verstehen.
Wenn mir dann jemand mit Theorie kommt, wehre ich mich dagegen, weil ich ja meine angeborene Musikalität auf das Instrument übertragen möchte. Theorie ist schon interessant, ich sage überhaupt nichts dagegen, aber mir kommt sie immer wie ein Bremsschuh vor für das, was ich machen möchte. Nicht unbedingt für andere, für die die Beschäftigung mit der Theorie ihre musikalische Erfahrung erweitert. Ich rede jetzt hier nur von mir. Ich möchte mich mit der Praxis beschäftigen, nicht mit Theorie. Ich höre ja, dass der Leitton nach der Auflösung strebt oder wie Dominante und Tonika miteinander harmonieren. Muss ich deshalb wissen, was ein Leitton oder eine Dominante oder eine Tonika ist? Wenn ich es doch sowieso höre?
Man MUSS gar nichts. Du würdest in einem guten Unterricht aber feststellen, wie sinnvoll es ist, die Begrifflichkeiten zu kennen. Denn das, was du schreibst, ist ja nur der Anfang. Wenn man die Begrifflichkeiten und Zusammenhänge nicht kennt, kann man sich nicht über die Interpretation von Stücken unterhalten, man kann dann auch nicht begründen, warum man es so und nicht anders spielt. Und man ist nicht in der Lage, die vielen weiteren Möglichkeiten zu erkennen, die sich bieten und auch die Möglichkeiten, die sich nicht bieten.
Reflexion über das, was man hört - nichts anderes ist Musiktheorie (ich hasse dieses Wort, weil die angebliche Theorie nur die Beschreibung der Praxis ist), verhilft zu einem noch besseren Hören, zu einem tieferen Verständnis dessen, was man spielen will. Auch wer musikalisch ist, hört noch nicht alles, sonst bräuchten Genies wie Trifonov und Co. keine Ausbildung. Wer musikalisch ist, hat eine gute Anlage und vielleicht einen guten Instinkt. Trotzdem müssen die Anlagen ausgebildet werden.
Das ist das zweite Problem. Das hatte ich letztens auch. Ich empfinde ein Musikstück auf eine bestimmte Art, spiele es so, und dann heißt es, nein, das entspricht nicht der Epoche. Da hat man das anders gespielt.
Muss mich das interessieren, wie man damals dieses Stück gespielt hat? Oder wie man heute vermutet, wie man damals das Stück hätte spielen sollen? Denn genau wissen wir das ja nicht. War ja niemand von uns dabei, wenn Bach oder Chopin gespielt hat.
Das ist mir schon wieder zu theoretisch. Ich möchte das Stück so spielen, wie ich es empfinde. Dann ist es für mich richtig. Egal, ob es nun in die Epoche passt oder nicht. Ist das nicht das Entscheidende? Wahrscheinlich schon wieder die falsche Frage.
Und für Profis, die das alles gelernt haben, sieht das auch ganz anders aus. Aber für mich als Rentnerin, die ein bisschen Musik machen will? Möglichst schnell möglichst gut spielen will? Hilft mir da die Theorie? Oder muss ich da nicht eher "intelligent üben", damit ich möglichst schnell vorankomme und nicht so viel Zeit verschwende? Von der ich nicht mehr viel habe, denn meine Lebenszeit ist begrenzt.
Mich frustriert meine natürlich vorhandene Musikalität da im Moment eher. Weil ich auf dem Klavier nicht das machen kann, was ich machen möchte.
Ich kann dir nur sagen, dass mich Dinge, die ich noch nicht wusste, immer interessiert haben. Wenn ein Lehrer mir eine ganz andere Perspektive auf ein Stück zeigte, stellten sich meine Lauscher auf und ich war fasziniert. Ich wollte lernen und Musik in all ihrer Vielfalt kennen lernen, was andere Perspektiven mit einschließt.
Ich wünsche dir sehr, dass du Möglichkeiten findest, deinen Frust in Energie und Spielfreude umzuwandeln, auch wenn es noch nicht nach Chopin klingt. Ideen habe ich weiter oben gegeben - vielleicht findest du deinen Weg auch unter deinen Bedingungen.
Liebe Grüße
chiarina