Hallo miteinander,
ich habe diesen Thread bis jetzt nur lesend mitverfolgt, möchte mich nun aber auch mal zu Wort melden. Die Idee, dass die richtige Klangvorstellung das manuelle Üben überflüssig machen würde, scheint hier nicht totzukriegen zu sein, obwohl mehrmals klargestellt wurde, dass dem nicht so ist. Für mich ist das so wie in dem folgenden Bild.
Ich stelle mir ein hell erleuchtetes Haus vor, zu dem ich gelangen möchte. Ich sehe es in der Ferne leuchten, bin aber noch weit entfernt und muss erst den mehr oder weniger beschwerlichen Weg zurücklegen, um dort hinzugelangen. Das hell erleuchtete Haus ist das Ziel, die Klangvorstellung. Der Weg ist das manuelle Üben. Wenn ich nun die ganze Zeit nur vor mir auf den Weg schaue, ohne mich immer wieder an dem Haus zu orientieren, dann gehe ich vielleicht in die Irre und komme ganz woanders hin. Ich muss einerseits den ganzen Weg zurücklegen, über jeden Stein klettern und das möglicherweise unwegsame Gelände bewältigen. Aber ich muss zugleich auch immer wieder zum dem Haus in der Ferne schauen, um sicherzugehen, dass ich in der richtigen Richtung unterwegs bin. Das heißt, die Klangvorstellung gibt mir Ziel, Richtung, Orientierung auf dem langen Weg des manuellen Übens. Beide Aspekte sind also notwendiger Bestandteil; nur das Haus zu sehen heißt noch nicht, dort zu sein.
Es gibt aber auch noch den Effekt, dass mir das Haus in der Ferne deutlich macht, dass es ein Ziel meines Weges gibt und dass der Weg nur eine begrenzte Länge hat. Daraus kann ich die Kraft schöpfen, den Weg selber besser zu bewältigen und durchzuhalten. Es liegen vielleicht immer mal große Gesteinsbrocken im Weg, die ich vor Ort mühsam aus dem Weg räumen muss und die mich viel Kraft kosten. Aber dann sehe ich wieder das Haus und schöpfe Kraft zum weitergehen. Die Klangvorstellung kann in gewissem Umfang also auch den Weg des manuellen Übens erleichtern und unterstützen.
Alle Erkenntnis über Struktur, Harmonie und Form eines Musikstückes bleibt äusserlich, wenn nicht die persönliche Ergriffenheit (man nehme vielleicht einen anderen Ausdruck) permanent dazu kommt.
Musik nimmt uns quasi auf eine psychologische Wanderung mit. Alles ist im Fluss und jeder Ton bezieht sich auf das Vorhergehende und verweist auf das Kommende. Der erste Ton ist bereits das Resultat vor der Stille und führt uns weiter. Jede Harmonie, jeder Lauf, jede Wendung ändert unsere Emotionen und dafür müssen wir uns öffnen.
Ergo ist die intensive Klangvorstellung nicht nur an die genaueste Kenntnis des Notentextes gebunden, sondern vielmehr an die inneren Vorstellung, die solche Vorgänge bei uns auslösen.
In Anhören von Musik und noch mehr im Interpretieren müssen wir die gesamte Bandbreite möglicher Emotionen und Assoziationen miterleben und so wird dann auch das Üben effektiv.
Das trifft für mich den wesentlichsten Punkt in bezug auf die Klangvorstellung und auch auf die Frage, wie man zu einer Klangvorstellung gelangt. Ganz banal gesagt, ist die Klangvorstellung nichts anderes als innerliches Hören, so wie es dann später auch äußerlich in Klang umgesetzt und gehört wird. Man muss sich aber klarmachen, was es bedeutet, einen Klang zu erzeugen, Musik zu machen und damit etwas
auszudrücken.
Die Musik hat wie sonst keine der Künste eine unmittelbare Nähe zum emotionalen Kern des Menschen. Sie ist deshalb am besten geeignet, Emotionen in unmittelbarer Kommunikation mit der Umwelt spürbar werden zu lassen. Wenn ich z.B. ein Stück von Chopin höre, dann kommt etwas in mir in Resonanz dazu, es gibt eine innerliche Antwort auf das Gehörte. Und diese Antwort ist nie nur ein Gedanke, sondern immer ein Gefühl.
Genauso drücke ich auch ein Gefühl aus, wenn ich dieses Stück von Chopin spiele. Und das ist nicht so leicht, wie es sich anhört. Denn die Strukturen unserer Zivilisation behindern den freien Ausdruck von Gefühlen in vielfältiger Weise (es würde zu weit gehen, dies genauer auszuführen). Die Musik ist eine der wichtigsten Möglichkeiten, trotz des gesellschaftlichen Drucks ein Gefühl innerlicher Integrität zu bewahren und mit dem Wesentlichen in Kontakt zu bleiben. Aber das muss man wollen. Das muss man sich erlauben. Das heißt, etwas zu spüren, wofür man unter Umständen sogar gar keine Begriffe hat.
Musik zu machen hat deshalb eine ganz wesentliche psychologische Dimension. Es berührt Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis, nach der eigenen inneren Verfassung, nach der "emotionalen Autonomie". Vor allem hat Musikmachen etwas mit Angst und Mut zu tun. Emotionen auszudrücken heißt, sie "real" und spürbar werden zu lassen, das kann ziemlich Angst machen und es gehört Mut dazu, sie trotzdem auszudrücken.
Um den Bogen wieder zur Klangvorstellung zu schlagen: Sich einen innerliche Vorstellung von der Musik zu bilden, bevor man sie äußerlich in Klang umsetzt, berührt diese psychologische Dimension des Musikmachens. An anderer Stelle habe ich schon einmal geschrieben, welche Fragen damit zusammenhängen, z.B.: Was bin ich bereit auszudrücken? Was erlaube ich mir zu spüren? Was lasse ich zu, das andere durch mich spüren?
Wenn man bereit ist, sich persönlich einzulassen auf die Musik und seine eigene Gefühlswelt dafür zu öffnen, dann hat man die richtigen Voraussetzungen, um eine innerliche Klangvorstellung zu entwickeln. Und auch in bezug auf die tatsächlich hörbare Musik, die man hervorbringt, kann man erst dann den gespielten Stücken wirklich gerecht werden und etwas Wesentliches mitteilen.
Grüße von
Fips