Für alle, die heute abend die Direktübertragung der „Traviata“ nicht sehen können (Arte, 20:15 h), gibt's hier den Liveticker:
20:00
Ja, liebe Freunde der seichten Unterhaltung, es ist Opernzeit! Und damit Halli/Hallo und Herzlich Willkommen zu unserem heutigen Echtzeit-Liveticker aus dem Wohnzimmer der Bildungsbürger! Wir berichten direkt aus der Scala; es ist Saisonbeginn, und wir freuen uns auf „La Traviata“ – eine tolle Darbietung von unsern Jungs und Mädels aus dem Mailänder Opernhaus.
Regisseur Dmitri Tcherniakov schickt eine hochmotivierte Startelf ins Rennen, an ihrer Spitze Diana Damrau, Piotr Beczala und Željko Lucic. Als Unparteiischer steht die „Katze“ Daniele Gatti am Dirigentenpult – mal sehen, ob's heute was zu maunzen gibt.
Die Scala ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Im Parkett sieht man viele Abendgarderoben, Perlenketten auf solariumsgebräunter Haut, wedelnde Fächer, und daneben Männer in steifen Fracks. Oben auf den Rängen bringen sich die Fans ins Stimmung; vorallem die Ultras in der Ostkurve des dritten Rangs machen schon mit „Forza Verdi!“-Rufen auf sich aufmerksam.
20:05
Und da sind sie, die Hauptakteure! Sie betreten den Orchestergraben und verteilen sich auf ihre Plätze. Ein fetter Applaus heißt sie willkommen. Sie spielen sich ein bischen warm, es ist ja auch noch Zeit. Oder nicht? Der Oboist spielt a' = 442 Hz, die Violinen nehmen den Ton ab, jetzt fallen die anderen Instrumente ein, und das ist immer ein Moment von ganz besonderer Spannung!
20:14
Ruhe kehrt ein, grundiert von Publikumsgemurmel und Programmheftrascheln. Aber jetzt: Applaus brandet auf; der Unparteiische betritt den Orchestergraben! Er geht zum Pult, verbeugt sich, dreht sich um, hebt den Taktstock –
20:16
Was ist los? Eine technische Panne, ein unglaublicher Fauxpas! Das Orchester beginnt zu spielen, aber der Vorhang hebt sich nicht. Auch die Beleuchtung funktioniert nicht. Die Sänger haben offenbar ihren Einsatz verpaßt. Wie ist das möglich? Schiri Daniele Gatti nimmt's mit stoischem Gleichmut hin, er läßt das Orchester einfach spielen.
Ein Potpurri von Verdi-Melodien erklingt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt sich doch der Vorhang. Offenbar hat die Technik ihre Probleme in den Griff bekommen. Und schon geht’s los! Auf der Bühne ertönt Kunstgesang. Kaum auszuhalten – man möchte es fast schon bedauern, daß jetzt bühnentechnisch alles klappt: Beleuchtung, Kulissengewackel, im Hintergrund die präzise Arbeit der Requisiteure.
20:43
Viva Verdi! Das Orchester bringt eine reife Mannschaftsleistung: 100 Spieler – und sie klingen wie ein einziger Leierkasten.
21:03
Man sieht die üblichen Sängerposen: Hand aufs Herz, Hand weg vom Herzen, Arm hoch zum „römischen Gruß“... wenn das der Duce wüßte!
21:14
Die Handlung ist hochgradig meschugge, aber das scheint hier niemanden zu stören. Das Publikum interessiert sich nur für Kehlkopf-Akrobatik.
21:27
Und da bekommen die Leute einiges geboten: Unser Goldkehlchen Diana singt alle an die Wand.
21:34
Falls sich doch irgendjemand für die Handlung interessiert – hier mal kurz zusammengefaßt: Boy meets girl, aber die anvisierte Verbindung ist nicht standesgemäß, weshalb der Typ jede Menge Zores bekommt, also Stress mit seinem Alten. Mißverständnisse sind vorprogrammiert, woraus sich die schönsten Schmoll- und Versöhnungsszenen ergeben. Die Oper gipfelt in einer Art von finalen Klimax, in der alle Handlungsbestandteile zum vollständigen Abschluß gelangen.
21:58
Piotr Beczala als Alfred benimmt sich völlig daneben. Er hätte schon mehrfach gelb sehen müssen. Wenn's nach mir ginge, stünde er längst unter der Mannschaftsdusche. Dann bliebe einem auch das Geknödel erspart.
22:30
Was ist los? Diana Damrau als Violetta hat eine schwere Hustenattacke. Jetzt müßte eigentlich das Spiel unterbrochen werden. Warum kommt kein Arzt? Der Unparteiische läßt einfach weiterspielen.
22:50
Na toll! Diana Damrau hat sich völlig übernommen. Sie liegt wie tot am Boden, aber das Spiel wird trotzdem nicht abgebrochen. Die Liebhaber aristotelischer Dramentheorie kommen mal wieder voll auf ihre Kosten. Ich mach Dich Katharsis.
22:55
Glück gehabt! Diana Damrau hat sich wieder erholt, steht beim Schlußtableau neben den anderen, als wär nix passiert, kriegt Blümchen, macht Bussi-Bussi ins Publikum, und der Krach ist auch endlich zu Ende. Nur das Publikum ist außer Rand und Band, es ruft Vittorio Emanuele zum König von Italien aus. Boah, was für eine Stimmung! Das muß man erlebt haben. Gleich fangen sie an, rhythmisch zu klatschen. Ich kann nicht mehr. Tschau, Tschüß und bis zum nächsten Mal: Gomez gelesen – dabeigewesen!
Stets zu Diensten
G.d.R.
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