"Der durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht..."
Der Großkanzler der Unterhaltung
Interview aus der "Welt" vom 20.Februar 2012:
Welt Online : Herr Castorf, Ihre Inszenierungen sind selten kurz.
Wie lange dauert der Abend diesmal?
Frank Castorf : Ich habe es in meinem Vertrag stehen:
Es darf nicht unter 17 Stunden gehen.
Welt Online : Für Kleists "Die Marquise von O…"?
Castorf : Natürlich nicht, ich spreche vom "Ring" in Bayreuth. Es gab erst Überlegungen,
Veränderungen an der Partitur oder am Libretto vorzunehmen. Aber Kirill Petrenko, der Dirigent,
möchte das Original haben, und die beiden Wagner-Schwestern ebenfalls . Also hab ich gesagt:
Okay, ist ja schön, dass keiner sagt, mach es mal kürzer. Und der Kleist an der Volksbühne
dauert drei Stunden.
Welt Online : [...] Warum gehen Sie das Risiko in Bayreuth ein?
Castorf : Bayreuth ist für mich eine Grenzüberschreitung. Der Konservatismus
ist dort viel stärker ausgeprägt. Wenn schon Oper, dann in Bayreuth.
Und wenn schon, dann den "Ring", dieses Gesamtkunstwerk. Wäre das Angebot
aus Wien oder woandersher gekommen, ich hätte es nicht gemacht. Oder nur,
wenn ich in die Partitur, ins Libretto hätte eingreifen dürfen.
In Bayreuth geht das aus verständlichen Gründen nicht.
Welt Online : Kaum zu glauben, dass Sie die Vorgaben akzeptiert haben …
Castorf : Ich habe auch mehrfach gezögert. Jetzt steht es im Vertrag, leider.
Das ist ein Risiko. Weil ich nicht mehr die Möglichkeit habe, den Wagner-Stoff
mit etwas anderem gegenzuschneiden. Aber ich habe in den Verhandlungen einiges erreicht.
Es wird eine Drehbühne geben, und ich kann mit dem Medium Film arbeiten. Die Opernleute
sind da ja immer ein bisschen skeptisch. Konservative Opernliebhaber auch.
Es gibt in Bayreuth ein Publikum, das nicht nur aus künstlerischen Gründen
über den roten Teppich geht. Wie die Kanzlerin und Thomas Gottschalk,
der Großkanzler der Unterhaltung. Das finde ich gut so. Hier in Berlin ist man
immer nur unter sich. Das ist auf Dauer doch langweilig.
Welt Online : Wagners "Ring" zelebriert in den 17 Stunden Musik
den Untergang eines Göttergeschlechts. Welche Geschichte erzählen Sie?
Castorf : Für mich ist es eine Reise hin zum Gold unserer Tage – zum Erdöl.
Und Siegfried, das ist doch die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Man kann es einfach wie Märchenfiguren erzählen. Es erinnert auch an Orson Welles'
Filmklassiker "Citizen Kane". Im Kriegsfilm "Apocalypse Now" kommen die Hubschrauber
zu Wagners Walkürenritt angeflogen. Diese Art der Übersetzung spukte uns
durch den Kopf. Weg von Illustration, mitten hinein in den logischen Widerspruch.
Welt Online : Ihr "Ring" spielt in der Gegenwart?
Castorf : Mit dem Erdölzeitalter beginnt die Industrialisierung der Welt. 1890 gab es
in Aserbaidschan einen Boom, die alten Fördertürme von Baku sahen aus wie Holzkathedralen.
Es gibt zwei Antipoden: Russland und Texas, wo der Ölboom in den 50er-Jahren folgte.
Aber in der Regie wird sich vieles dem historisierenden Zugriff entziehen. Amerika
und Russland sind für mich das 20. Jahrhundert, in der Mitte ist etwas, das sind wir.
Mein Bühnenbildner Aleksandar Denic hat etwas Wunderbares gebaut: den Berliner Alexanderplatz
als postmodernen Sozialismus. Auf einer Drehbühne wird Ost-West zusammengebracht,
das ist unsere Zeitreise. Sie beginnt irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg.
Welt Online : Bei einer Premiere in Bayreuth haben Sie eine größere
politische Aufmerksamkeit als in der Volksbühne. Wie wollen Sie diese nutzen?
Castorf : Das muss man sehen. Ich liebe den Spaß der Umwege, und ich weiß
heute doch noch nicht, wohin mich die Musik führen wird. Es gibt den Alexanderplatz,
aber wenn sich die Bühne dreht, ist man in New York an der Wall Street.
Ich will diese Ambivalenz und keine eindeutige Aussage. Eindeutige Aussagen stimmen selten.
Aber richtig ist: Alle Systeme, die wir hatten, haben sich als Walhalla herausgestellt.
Und gegenwärtig lösen sich alle moralischen Werte auf.
Welt Online : Dann machen Sie einen "Globalisierungs-Ring"?
Castorf : Ich kann nicht sagen, ob Globalisierung gut oder schlecht ist. Aber ich merke,
dass durch den Zusammenbruch des Wertesystems, an dem ich mich ja früher gerieben habe,
sich vieles verschlechtert hat. Die Ost-West-Mauer hat auch vieles abgehalten, die großen Kriege.
Das Aufkommen des militanten Islamismus wäre so nicht denkbar gewesen. Aber Geschichte
kann man sich ja nicht wünschen, die passiert einfach.
Welt Online : Kleist wie auch Wagner – ist das Ihre Rückbesinnung auf das Deutsche?
Castorf : Ich bin ja auch so ein teutonischer Zuchtmeister. Ich finde schon, dass wir
eine lange Traditionslinie haben, die erklärt, warum wir so geworden sind. Das ist teilweise
furchtbar, manchmal – wie im Fall Wagner – etwas ganz Besonderes. Mich interessieren
die liegengebliebenen Stoffe des 19. Jahrhunderts: Grabbe, Hölderlin, Lenz.
Bei Kleist macht es mir Spaß, durch Widersprüche zum Lachen zu provozieren.
Mein Stil ist vielleicht im Augenblick nicht angesagt. Das wird sich aber wieder ändern.
Im Moment bin ich hier in Berlin in einen Spalt der Zeitmaschine gefallen.
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