Nachtrag 2
Zurück zum Werk: Das Werk des Komponisten liegt für mich in seinen erarbeiteten Klangvorstellungen. Dieses Werk ist für uns nicht zugänglich, das Einzige was wir haben, ist der Notentext, als erste Annäherung an diese Vorstellungen, häufig (soweit ich das durchschaue) trotz aller Bemühungen in Urtextausgaben nicht ganz eindeutig und wie jeder Text grundsätzlich unterschiedlichen Interpretationen zugänglich.
Die Annahme, es gäbe so etwas wie einen festen Inhalt, eine stabile Wahrheit in Texten, ist bei uns kulturhistorisch tief verwurzelt und hat wohl viel mit dem besonderen Status des geschriebenen Wortes (Stichwort Bibel) zu tun. Und so bemühen wir uns um ein möglichst genaues Lesen, um Aussagen des Komponisten der Zeitgenossen, betreiben Textkritik usw. Und nur um das Klarzustellen: ich finde das auch gut so.
Das was wir als Werk wahrnehmen, ist aber letztlich immer nur ein Konstrukt, es ist unsere Konzeption davon, was das Werk ausmacht. Diese ist geprägt durch historisch gewachsene Lesetraditionen, die mir vermitteln, wie ich mit dem Text umgehen kann/soll. Und so berechtigt diese Traditionen sein mögen, sind sie letztlich nichts anderes als Ausdruck von Wertungen. Was ist uns wichtig? Wieso gerade das? Etc. Solche Traditionen sind beileibe nicht stabil. Die Oratorien von Bach musiziert "man" heute meist anders als vor 30 oder 50 Jahren. Was irgendwann vielleicht noch ein interpretatorischer Skandal war, kann über Kurz oder Lang zur Norm werden. Sind die einen oder anderen deswegen schlechtere Diener am Werk? Solche Aussagen sind aus meiner Sicht immer Werturteile, keine Tatsachenfeststellung.
Auch die Rolle, die sich Interpreten im Zusammenhang mit dem Erarbeiten eines Werks, selbst zuschreiben, basieren auf Wertungen.
insistieren, daß der Interpret Diener des Autors ist und als Vermittler zwischen ihm und dem Publikum fungiert. Will er das nicht, sollte er doch besser selber zum Autor werden.
Das Bild des Dieners ist für sich schon interessant. Da klingt potenziell sehr viel mit: einer (guten) Sache dienen/dienlich sein, Kammerdiener, Knecht, Unfreier, tiefer gestellt, Dienst am Herrn, Gottesdienst, Wehrdienst, Sozialdienst. Ich glaube dieser Dienerrolle nicht so recht. Für mich ist es völlig klar, dass jeder, der eine Geschichte nacherzählt zum Mitautor dieser Geschichte wird. Zu den Stimmen in der Geschichte kommt meine Stimme dazu. Für mich hat natürlich auch die Interpretation einen kreativen, schöpferischen Charakter. Nur durch die Interpretation gelangt das Werk zu neuem Leben, nur in den Interpretationen kann es weiterleben. Der Interpret ist wohl hoffentlich mehr als ein Diener, der demütig buckelnd das Partitur gewordene Wort des Autors durch die Gegend trägt. Der Interpret ist der unmittelbare Urheber des Konzerterlebnisses. Ich würde mir wünschen, Interpreten würden sich nicht so gegen die unausweichliche Mitautorenschaft wehrt.
Für mich gilt das Gesagte auch für Inszenierungen.
das hätten die Regisseure gerne so, aber es ist ein elementarer Fehler: Inszenierung wie Interpretation sind Bestandteile der Rezeption, sie sind keine Werke und haben keinen Werkcharakter.
Das kapier ich leider nicht ganz, wer ist hier als Rezipient angesprochen? Und natürlich: wie verstehst Du Werk?
Rezeption umfasst für mich in diesem Kontext Aufnehmen, Verarbeiten, Verstehen. Ich sitze in der Oper und rezipiere das mir gebotene Spektakel. Dieses läuft nach Instruktionen ab, die vom Regisseur stammen, es stellt das Ergebnis des kollektiven Versuchs dar, die Gestaltungsvorstellungen des Regisseurs umzusetzen. Diese sind wiederum das Ergebnis der Rezeption des Regisseurs.
In jedem Fall ist für mich die Arbeit des Regisseurs ein schöpferischer Akt, der in der Entwicklung eines Konzepts für die theatralische Umsetzung besteht. Dieser wird dokumentiert, auch hier gibt es eine Art Partitur, auf die man auch Jahre später noch zurückgreifen kann.
Vom Regisseur erwarte ich mir, dass er das Potenzial, das in der überlieferten Partitur und Libretto enthalten ist, nutzt und mir eine Geschichte erzählt, die mich berührt. Ich erwarte nicht, dass er mir genau die Geschichte erzählt, die mir der Komponist vor X Jahren erzählt hätte. Ob er dafür die Form des Regietheaters wählt, historisierend arbeitet oder sonst was macht, ist mir eigentlich egal. Wenn er in dem Stoff des Stücks interessante Themen sieht, die er mit anderen Mitteln besser vermitteln zu können meint, warum soll er das nicht tun? Und wenn er dabei zum Schluss kommt, dass der Chor in Rattenkostümen auftreten soll, dann soll das so sein.
Wird es damit schwieriger, ihm zu folgen? Ganz sicher. Muss ich das als Zuseher goutieren? Nein, wenn meine Erwartungshaltungen so grob enttäuscht werden, kann das niemand verlangen. Ihm deshalb zu unterstellen, er würde mich als Zuseher verachten, zum Narren halten etc. halte ich aber für ebenso überzogen wie die von der Gegenseite zu vernehmenden Verbalinjuria.
Es gibt sicher für alles Beispiele und Gegenbeispiele, ich weiß zum Beispiel von Bekannten, die im Opernbetrieb arbeiten, dass Inszenierungen nicht so einfach aus dem Ärmel gebeutelt werden. Da wird recherchiert, diskutiert, ernsthaft gearbeitet. Das erwarte ich mir auch als Zuschauer vom Regieteam. Ich erwarte aber nicht (und will das auch nicht), dass sie mir die gleiche Geschichte darbieten, die sich in den sogenannten Grenzen des Texts bewegen, die ich eh schon kenne. Ich bin in Konzert und Oper auf neue Hör- und Seherfahrungen aus.
Musik verlangt Vorbereitung auch vom Zuhörer, hat Harnoncourt, glaube ich gesagt. Auf Regietheater sollte man sich auch vorbereiten (können). Diesbezüglich hätten in meinen Augen Bühnen wie Publikum Aufholbedarf. Das gilt meiner Meinung nach auch für traditionelle Produktionen.
Zur Frage der Auslastung: Ich denke es ist im Kunstbetrieb vielleicht nicht so viel anders wie in der Landwirtschaft. Monokulturen rächen sich irgendwann. Es braucht einen guten Mix. Da bin ich mit meiner Oper in Graz sehr zufrieden.
Liebe Grüße
Gernot