Wieweit liegen sie denn musikalisch auseinander?
Wenn man bedenkt, daß die späte Bearbeitung des "Marienlebens"
teilweise einer Neukomposition gleichkommt, sind die musikalischen Eingriffe
im "Cardillac" eher harmlos - mit einer großen Ausnahme: Die Oper wird
um einen ganzen Akt erweitert, in dessen einer Szene Teile aus Lullys "Phaeton"
wortgetreu erklingen - gewissermaßen eine Oper in der Oper. Die Hauptänderungen
betreffen den
Text: Der alte, reichlich prüde gewordene Hindemith reinigt
das Libretto von "unanständigen" Formulierungen, Anzüglichkeiten etc.
Das hat eine verwickelte und komplizierte Vorgeschichte. Es ist bekannt,
daß der junge bis mittlere Hindemith ein fröhlicher unverklemmter Bursche
gewesen ist: Blut und Sperma pflasterten seinen Weg, zumindest auf der Opernbühne.
"Mörder, Hoffnung der Frauen" (Kokoschka), "Sancta Susanna" (Stramm),
"Das Nusch-Nuschi" (Franz Blei), "Das Baden-Badener Lehrstück vom Einverständnis" (Brecht),
"Hin und zurück" (Marcellus Schiffer), zuletzt "Neues vom Tage" (Schiffer)
sorgten mit schöner Regelmäßigkeit nicht nur der Musik wegen für Empörung.
"Neues vom Tage", eine harmlose Zeitoper (UA 1929), hatte mit einer gewissen Verspätung
sogar gravierende kulturpolitische Auswirkungen - wegen der Badezimmerszene.
Dort saß die Protagonistin - in einem fleischfarbenen Kostüm - in einer mit Schaum gefüllten
Badewanne und besang mit fröhlichen Koloraturen die Segnungen der Warmwasserversorgung.
Ein solcher Auftritt war zumindest fürs urbane Berliner Publikum nichts ungewöhnliches.
Es befand sich aber auch ein Reichstagsabgeordneter namens ****** im Publikum,
den nicht die Musik, wohl aber die (vorgetäuschte) Nacktheit der Sängerin überforderte.
Nicht nur, daß er die Oper wütend verließ - von diesem Moment an war Hindemith
für ihn als Bedrohung des deutschen Volkes entlarvt. 1934, auf dem Höhepunkt
der Kontroverse um Furtwängler, krähte Goebbels, daß die Gelegenheit nicht nur Diebe
und atonal komponierende Musiker erzeuge, sondern auch arme Sängerinnen zwänge,
splitternackt auf der Bühne zu erscheinen. Und in Zeugnissen aus seiner Umgebung
ist überliefert, daß ******, wann immer der Name Hindemith fiel, reflexartig
von der "Nackten in der Badewanne" zu schwadronieren begann.
Und was tat Hindemith? Statt sich jede Art nazistischer Empörung wider ihn
als Ehrennadel ans Revers zu heften, verinnerlichte er die Kritik auf merkwürdige
Art und Weise. Nach dem Krieg ließ er über seinen Verlag alle Aufführungen
der drei frühen Einakter und des Baden-Badener Lehrstücks verbieten.
Beim "Cardillac" - immerhin seiner ersten abendfüllende Oper - traute er sich das nicht.
Aber er griff gewaltig in das Libretto ein, was das Hinzukomponieren weiterer Musik erforderte,
und die Umgestaltung des Librettos betraf mehr als nur die Umformulierung
einzelner Textpassagen.
Zwei Grundprobleme konnte er nicht lösen: Ferdinand Lions Libretto
fußt auf E.Th.A.Hoffmanns "Das Fräulein von Scuderi", einer Kriminalgeschichte.
Der Stoff ist ziemlich schaurromantisch, und es ist rätselhaft, was den damals
der Neuen Sachlichkeit zugeneigten Antiromantiker Hindemith daran faszinierte.
Eine Erklärungsmöglichkeit bietet die in jener Zeit populär werdende Gattung Film.
Der deutsche Stummfilm hatte mit einer ähnlich widersprüchlichen Neigung
zu konstruktivistischen Intérieurs und schauerromantischen Stoffen zu kämpfen.
Eine gewisse Parallelität zu "Cardillac" zeigt sich in Fritz Langs berühmtem Film
"M - Eine Stadt sucht einen Mörder". Die Massen(=Chor-)Szenen sind das beste
in seiner Oper. Aber das Grundproblem konnte Hindemith auch in der Zweitfassung
nicht tilgen: Die Behandlung eines romantischen Stoffs mit antiromantischen Mitteln.
Antiromantisch heißt: Hindemiths Musik weigert sich, Handlungsmomente
oder seelische Vorgänge musikalisch zu verdoppeln, wie es in der spätromantischen Oper
(R.Strauss et al.) guter Brauch war. Seine Musik bleibt distanziert. Auf der Bühne
passiert ein Mord, während im Orchestergraben dazu ein fröhliches Flötenduett tiriliert.
Das war provokant - und hatte als Reaktion auf die spätromantischen Gefühlsergüsse
seine Berechtigung. Nur war Hoffmanns bzw. Lions Textvorlage für solche Experimente
ungeeignet.
Das viel größere und für Hindemith viel weniger lösbare Problem:
Hindemith identifiziert sich mit Cardillac (dem Goldschmied, der seine Kunden ermordet,
um sich wieder in den Besitz der von ihm angefertigten Schmuckstücke zu bringen).
Hindemith identifiziert sich aber nicht mit dem Raubmörder, sondern mit dem Künstler.
"Cardillac" ist eine Künstleroper - wie "Mathis der Maler" und "Die Harmonie der Welt".
An der Amoralität seiner Hauptfigur konnte das freilich nichts ändern -
keine noch so sehr um Verständnis für den Goldschmied bemühte Textänderung.
Die zweite Fassung der Oper ist übrigens besser als ihr Ruf, und mit der Implantation
Lullyscher Opernmusik ging es Hindemith um die Verschränkung musikalischer Zeitebenen,
etwas, das Hindemith auch in anderen späten Werken thematisiert hat,
z.B. in der sehr hörenswerten "Pittsburgh Symphony", deren avancierte Musiksprache
sich im 2. und 3.Satz mit einem versteckten Webern-Zitat und amerikanischen Volksliedern
als Hintergrundmaterial bestens verträgt.
Die Idee der Verschränkung musikalischer Zeitebenen hat dann Bernd Alois Zimmermann
aufgegriffen, und heute ist sie aus dem (musik)ästhetischen Diskurs gar nicht mehr wegzudenken.
P.S.: Lieber Friedrich, leider empfange ich den BR nicht -
berichtest Du bitte einmal von Deinem Höreindruck?
Herzliche Grüße!
Gomez
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