Czerny schreibt Folgendes:
"Bei dem vorgezeichneten Alla breve Takt ist das ganze Tonstück von mässigem Andante-Tempo zu spielen. Das vorgezeichnete Pedal ist bei jeder Bassnote von Neuem zu nehmen. Alles legatissimo. Im 5ten Takte beginnt in der Oberstimme der eigentliche Gesang, der mit etwas mehr Nachdruck hervortreten muss. (...) Bei diesem Forte wird auch das Verschiebungspedal weggelassen, welches sonst Beethoven durch das ganze übrige Stück zu nehmen pflegte (...). "
Czerny scheint also Beethoven selbst mit dem Stück mehrmals gehört zu haben. Wenn man seine Hinweise ernst nimmt:
Andante bedeutet gehend und beinhaltet auch als mässiges Andante immer ein fließendes Tempo. Ob die Aussage von Czerny ("Andante") nun auf Viertel oder Halbe bezogen ist: in jedem Fall ist das Tempo von Wim Winters nicht fließend, sondern stehend oder bestenfalls zäh fließend. Er wählt dieses Tempo ja auch nur deshalb (wenn ich ihn richtig verstehe), weil er der Ansicht ist, dass das Metronom zweimal ticken müsse, um einen vollen Schlag zu erhalten und es deshalb historisch korrekt sei, in halbem Tempo zu spielen:
https://www.clavio.de/threads/was-h...authenticsound-auf-yt-zu-tempo-angaben.25029/ .
Ich bin keineswegs dieser Ansicht - es ist zwar richtig, dass auch der Klang zählt, aber es zählen z.B. auch die Strukturen, gerade bei Beethoven. Die Melodietöne sind manchmal sehr lang (punktierte Halbe) und sie verlieren sich bei so langsamem Tempo. In Takt 6 ist z.B. das gis' auf Zählzeit 2 (in Halben gedacht) bei Wim Winters gar nicht mehr zu hören. Dort sind dann die Triolenachtel viel zu laut: die Melodie zerfällt. Auch der große Spannungsbogen über eine Phrase geht verloren, ebenso die musikalische Entwicklung der Phrasen, der musikalische Aufbau.
Das finde ich sehr schade und wird dem Werk nicht gerecht. Nun könnte man einwenden, dass Pianisten wie Tzimon Barto, Pogorelich etc. bekannt sind für ihre ungewöhnlichen Tempi - Pogorelich braucht z.B. ewig für Tschaikowsky b-moll, 1. Satz, weil er ihn so langsam spielt.
Aber erstens spielt er ihn so meisterhaft, dass man dafür andere Dinge, andere Strukturen und Elemente hört, die man noch niemals in dem Stück wahrgenommen hat, zweitens werden diese Interpretationen bezgl. Werktreue durchaus kritisch gesehen und drittens interpretiert er die Werke so, wie sie für IHN zwingend sind, aber er erhebt keinen allgemeingültigen Anspruch.
Winters hingegen spielt das Stück so, weil er meint, dass wäre historisch richtig. Er bezieht sich da auf seine Auslegung der Metronomzahlen, aber setzt er sich mit musikalischem Inhalt, Vortragszeichen, Quellen, Taktart etc. auseinander?
Seine Interpretation in extremer Langsamkeit zeigt nichts Neues, sondern reduziert das Vorhandene auf einen sehr einseitigen Aspekt. Wie wenn ich ein Schmuckstück "unter die Lupe" nehme. Beim Üben plädiere ich sehr (u.v.a.) für diese Herangehensweise - als Interpretation ist mir das viel zu einseitig, denn ich nehme als Hörer leider nur noch den Lupenausschnitt wahr und nicht das, was sonst noch für wunderbare Kostbarkeiten komponiert sind.
Wie Alter Tastendrücker sagte: es gibt Grenzen der Möglichkeiten von Deutungen und dieses extrem langsame Tempo wird dem, was Beethoven wollte, aus meiner Sicht nicht gerecht!
Und zum Schluss noch Glenn Gould, wie Pogorelich und Barto bekannt für seine exzentrische Interpretationen. Was macht er?
Liebe Grüße
chiarina