Ist das jetzt ein schlechter Witz, wenn ich, der als schwarzes Schaf und großer Polarisierer gilt, zur Mäßigung aufrufe? Was geschieht hier? Der Tonfall ist völlig vergiftet. Clavio-Freundschaften werden gekündigt. Der Grundstein für solide Feindschaften wird gelegt, einem Konzertbesucher mit "Alle Menschen werden Brüder" auf den Lippen der Saalverweis angekündigt. Ist das hier ein Irrenhaus?
Was wir gerade erleben, ist ein zunehmender allseitiger Kontrollverlust. Was hier gruppendynamisch geschieht, ist schon längst kein Gedankenaustausch mehr, sondern ein verbaler Schlagabtausch zweier Lager, die sich gegenseitig jeweils das Schlechteste unterstellen, nämlich eine Krise, einen Konflikt zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Ziele zu instrumentalisieren. Dem anderen zuzuhören und ihm mindestens das Recht auf einen Irrtum, wenn nicht sogar das Recht auf eine zutreffende Erkenntnis zuzugestehen, scheint unvorstellbar. Das kann jetzt die nächsten hundert Seiten so weitergehen, bis Peter/Troubadix der Geduldsfaden reißt. Oder die Kontrahenten schaffen es, sich zu besinnen.
Was könnte dazu beitragen? Beide Lager müßten auf die üblichen Standardzuschreibungen verzichten, d.h. der 'Refugee welcome"-Fraktion zugestehen, daß sie mit der generellen Befürwortung der Aufnahme von Asylsuchenden nicht gutmenschliche Eigenreklame und Selbstbeweihräucherung betreibt (mit dem Hinweis fasse ich mir an die eigene Nase), und den Skeptikern/Gegnern der sogenannten unkontrollierten Zuwanderung das Recht auf eine Kritik zugestehen, die nicht mit Positionen rechts von der Mitte oder gar mit Rechtsradikalismus/Fremdenfeindlichkeit gleichzusetzen ist.
Zur Versachlichung der Diskussion wäre es gut, begrifflich zu unterscheiden, auch wenn die Unterscheidung wehtut: zwischen staatlich gewollter und geförderter Zuwanderung wirklicher Fachkräfte, der im Grundgesetz verankerten Verpflichtung zur Aufnahme Asylsuchender aus Kriegs-/Krisengebieten (ohne Obergrenze) und dem Zustrom durch Schlepper angeheuerter Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge.
Inhaltlich: Es gibt gute Gründe, gegenüber der 'unkontrollierten Zuwanderung' skeptisch zu sein: die emotionale Überforderung vieler Menschen, die finanzielle Überforderung der Städte und Gemeinden, die hohe Delinquenz unter (männlichen) Jugendlichen mit Migrationshintergrund, das Entstehen rechtsfreier Räume in den Großstädten, das Sich-Herausbilden von Parallelgesellschaften. Gegen all das wäre im Diskurs anzuführen: die Verpflichtung von uns wohlstandsgebeutelten Abendland-Bewohnern, die Opfer unseres Lebensstils an unserem Wohlstand partizipieren zu lassen, die Selbstverständlichkeit, Menschen in Not beizustehen und dafür auch Opfer zu bringen, das im Grundgesetz verankerte Asylrecht etc. Allerdings wiegen sich diese Punkte nicht gegenseitig auf. Vielen Argumenten aus beiden Lagern kann ich zustimmen, nicht wie der Rabbiner, der aus Langeweile allen streitenden Parteien recht gibt, sondern weil beide Seiten recht haben. Sie reden nur von grundverschiedenen Dingen. Man müßte im Einzelnen abwägen, was jeweils stärker zu gewichten ist und welche Konsequenzen sich aus der jeweiligen Entscheidung ergeben.
In unserer Politik (deutschland- und europaweit) sehe ich diese kalkulierende Vernunft zur Zeit nicht walten, habe vielmehr den Eindruck eines hilflosen Getriebenseins, was die Nervosität in den Foren und Kommentarspalten des Zwischennetzes noch verstärkt.
Es wäre jedenfalls viel gewonnen, wenn wir uns besinnen.
Freundliche Grüße in die Runde
G.d.R.