Eine knappe Erwähnung des gregorianischen Gesanges als christlicher Meditationsform, wie ich sie mir erlaubt habe, war in diesem Faden und Kontext m.E. "on-topic". Eine Fortführung weist aber sicher aus dem Fadenthema (und vielleicht Forum) hinaus, so dass man diese Teile der Diskussion ggf. auch auslagern könnte, um den OP nicht durch exzessives Abschweifen zu brüskieren.
Offene Anknüpfpunkte gibt es u.a. zur Frage nach dem Wesen/Charakter des gregorianischen Gesanges, nach der Wort-Ton-Beziehung, den gregorianischen Gattungen und Stilen, Gregorianik als gesungener Meditation oder allgemeiner der Frage nach der gregorianischer Spiritualität und ihrer Beziehung zur christlichen Mystik. Das ist ein bisschen viel... es gibt bergeweise Literatur und viele Kurse dazu. Nur kurz ein paar unsortierte Anmerkungen aus meiner subjektiven Perspektive und ohne jeden Anspruch auf fachliche Autorität:
"Die" Gregorianik – davon kann man nicht immer in dieser Allgemeinheit sprechen. Denn oft kommt es etwa auf den jeweiligen liturgischen Kontext an (Messe oder Offizium [Stundengebet] und die jeweilige Funktion darin), auf bestimmte Gattungen und Stile, usw.
Tropus und Sequenz führen schon aus dem Kernbereich der Gregorianik hinaus, bauen ja als Erweiterungen darauf auf und wurden seit frühester Zeit kirchenamtlich mit Skepsis betrachtet (bereits im Jahr 845 Verbot auf der Synode von Meaux). Das soll wiederum nicht heißen, dass Tropierung als Quelle einer "sekundären Schicht von Kompositionen mit marginaler Bedeutung oder eine 'Dekadenzerscheinung' des gregorianischen Repertoires" anzusehen ist (Handbuch Gregorianik, S. 124ff). Aber bei knappen Diskussionen führt die Betrachtung dieser faszinierenden Gattungen sicher trotzdem hauptsächlich zu Verwirrung, weil sie einiges an historischem, liturgischem und musikwissenschaftlichem Kontext voraussetzen — und auch vom Blick auf das eigentliche Wesen des gregorianischen Gesangs ablenken, nicht zuletzt weil sie eben in mehrerlei Hinsicht schon darüber hinausweisen. Ähnliches gilt etwa für die auch schon ab dem 11. Jh. dokumentierte Alternatimpraxis, in welchem z.B. die Orgel einen Part in wechselchörig angelegten Gesängen übernimmt.
@méchant village die Texte wie auch die Musik der "Gregorianik" sind primär frühmittelalterliche-hochmittelalterliche Angelegenheiten
Die Texte des greg. Kernrepertoires stammen weit überwiegend aus der Bibel und zu großen Teilen aus dem AT. Einen großen Teil stellen die Psalmen (auch außerhalb der eigentlich Psalmodie, in den "auskomponierten" Gesängen). Die Sammlung der Psalmen war um 200 v.Chr. abgeschlossen; die meisten Psalmen entstanden nach 600 v.Chr. Es ist also ein ausgesprochen antikes Textrepertoire, natürlich in lateinischer Übersetzung, welche sogar oft nicht auf die Vulgata (abgeschlossen um 400 n.Chr.), sondern auf ältere Textversionen zurückgeht. Natürlich heißt das nicht, dass mittelalterliche Texte gar keine Verwendung fänden (z.B. für Heiligenfeste Texte aus ma. Heiligenviten oder eben in den Ergänzungen des greg. Repertoires in Tropen/Sequenzen, wie oben angesprochen).
Zitat von Ambros_Langleb:
Verbot der »lasziven« Musik; Prototyp für jene ist die dorische diatonsiche Skala (und nicht etwa die chromatische).
Mir ist nicht klar, auf welchen historischen Kontext Du Dich hier beziehst. Die "dorische" Skala ist als I. (authentisch) und II. (plagal) Ton Teil des Oktoechos, also des Tonartensystems des greg. Chorals und absolut allgegenwärtig im Repertoire (schon das Graduale zum 1. Advent steht im I. Ton).
Hierbei ist die Musik selber, die ihre Funktion aus antik. Tradition in den sieben freien Künsten hat, nicht zentral für den gregorianischen Choral: denn sie ist da nicht "frei", sondern wird streng abgegrenzt von anderen mittelalterlichen Musiksorten, damit sie formal und klanglich die Funktion ad gloriam die erhält (ihre "gregorianische" Art und Weise (unbegleitet, ruhig, klar, erhaben etc) wird konnotiert mit ihrer religiösen Funktion, die den liturgischen und mystischen klerikalen Texten entstammt)
Vielleicht missverstehe ich es, würde es aber etwas anders ausdrücken. Wie schon gesagt besteht der gregorianische Gesang aus mehreren Formen und aus mehreren Stilen.
Im großen, kunstvoll auskomponierten gregorianischen Korpus ist die Musik auf jeden Fall zentral, eben als Medium der erklingenden heiligen Schrift, die durch sorgfältigsten Einsatz musikalischer Parameter
vertont und
betont wird. Die Musik ist zentral, aber nicht unabhängig und auch kein Selbstzweck. Auch weit ausladende Melismen wie hier in Prope est Dominus sind nie einfach nur "schöne Verzierung". Über die Interpretation, die Wort-Tonbeziehung gibt es ganze Monographien, ein Standardwerk ist die zweibändige "Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals" von Agustoni & Göschl.
Die Aussage, dass die (genaue Ausgestaltung der) Musik selbst nicht so zentral sei, mag vielleicht noch eher für die (Offiziums-)Psalmodie gelten (in Antiochien für das 4.Jh. bezeugt und von Ambrosius in Mailand um 385 eingeführt), welche nicht nur die Psalmen selbst betrifft, sondern als deren neutestamentliche Entsprechung im Offizium auch die Cantica, etwa die drei lukanischen (Magnificat, Benedictus, Nunc dimittis).
Dabei wird aber vergessen, dass die verschiedenen Psalmtöne jeweils Varianten (differentiae) kennen, welche auch musikalisch charakteristisch sind (
hier ein kleiner Überblick der Offiziumspsalmodie). Und außerdem gehört zur Psalmodie ja auch noch die Antiphon als klanglicher Niederschlag eines individuell betonten Textes.
"Nach außen hin" ist der gregorianische Chorals keinesfalls "streng abgegrenzt von anderen Musiksorten", sondern hat viele Musiksorten auf die eine oder andere Weise hervorgebracht: Entwicklungen wie Tropierung und Sequenz, aber auch die Entwicklung der Mehrstimmigkeit im Organum, in welchem ein gregorianischer Cantus firmus von weiteren Stimmen umgeben wird und daraus wiederum die Entstehung der Motette und der polyphonen Messkomposition, die ja ihrerseits dan alle auch in Messe oder Offizium Verwendung fanden.
Aber vielleicht meintest Du, dass die Kirche das einstimmige Repertoire "bewachte" und vor Einflüssen "von außen" absichern wollte. In gewissem Sinne stimmt das, wobei ja Tropierung oder Alternatimpraxis genau solche Einflüsse "von außen" sind.
S. Klöckner schreibt im Handbuch Gregorianik über das Spannungsfeld zwischen einerseits dem großen Wert, den man von Anfang an auf die einheitliche Überlieferung und Kodifizierung der existierenden Gesänge legte und andererseits dem ständigen Hinzukommen neuer Gesänge:
"Das Neuschaffen blieb in all seinen Formen und Verfahren auf die 'cantilena romana' bezogen; es entfaltete sich in ständiger Auseinandersetzung mit deren textlicher und melodischer Gestalt, ganz gleich, ob es sie nachzuahmen, sich von ihnen zu unterscheiden oder sie zu überbieten suchte. Eine Weiterarbeit am Choral war möglich [...]
Meditation hat eigentlich keinen weltlichen „Zweck“, sie wird zwar in den Alltag integriert und hat dann Auswirkungen (falsch angegangen auch durchaus sehr Negative!), aber ursprünglich wird sie nicht zum Verbessern von Diesem oder Jenem benutzt.
Das ist unser (westlicher?) Optimierungsdrang. Noch eine Technik, noch ein Trend. „Westlich“ mit Fragezeichen, denn in asiatischen Ländern wird sie inzwischen bewußt zur Optimierung von Leistungen genutzt.
Zitat von rolf:
für Meditation im heutigen Mischmachsinn ist kein Platz in der (früh)mittelalterlichen Welt (!)
Des sehe ich (beides) auch so.
Auch hat
@Barratt hat in ihrem Beitrag weiter oben m.E. einen wichtigen Unterschied zwischen abendländischen und fernöstlichen Meditationsformen angesprochen ("Die kontemplative Gottesschau ist am ehesten mit der fernöstlichen "Meditation" zu vergleichen, auch wenn sie präzise das Gegenteil ist....")
Zitat von méchant village:
Sind die Gesänge ein Teil des Wegs und vorbereitend auf die mystische Verschmelzung (in der darauffolgenden Stille)?
Der vieldeutige und daher leicht missverständliche Begriff der "Mystik" bezeichnet im weiteren Sinne als "Ausdrucksform des Ergriffenseins [...] von der anderen Wirklichkeit" ein universales und kulturenübergreifendes Phänomen aller Religionen (LThK), zum anderen aber auch eine spezifisch christliche Ausprägung als Bewusstwerdung der göttlichen Gegenwart, welche schon seit dem 2.Jh. eine bedeutende Rolle spielt und der seitens der Kirche immer da mit Vorbehalten begegnet wurde, wo sie sich in eine Richtung entwickelte, in welcher der Fokus sich von einer unmittelbareren oder direkten Wahrnehmung Gottes auf eine Erforschung der eigenen inneren Bewusstseinszustände verlagerte (die Kirche hat also Deine obige Kritik an einem übersteigerten Individualismus und – heutzutage – Optimierungsdrang wohl schon sehr früh als Fehlentwicklung erkannt und benannt).
Ich meine, der Gregorianische Gesang, erwachsen aus dem Gebet und der Kontemplation der Mönche als gesungene Meditation ist ein Aspekt der christlichen Mystik, aber nicht notwendigerweise als Teil eines mystischen Weges. So wird ja etwa die Stille, bzw. das Schweigen auch ganz unabhängig vom Choral oder anderer Musik in Orden, ordensähnlichen Gemeinschaften oder auch einzeln praktiziert und als Weg zu Gott verstanden. Aber dazu gibt es sicher viele andere interessante Perspektiven...
P.S. Kleiner Hörtipp für Gregorianik auf höchstem Niveau und aktuellem Forschungsstand (auch als einzelne CDs erhältlich):
https://www.eos-audio.com/narrabo-omnia-mirabilia-tua/