Ein anderes beliebtes Vorurteil besteht in der Behauptung, dass Improvisation "in der Klassik" keine Rolle spiele, sondern heutzutage nur im Jazz praktiziert würde
Das ist z.B. auch so etwas, was mich ein bisschen daran gehindert hat, mich damit zu beschäftigen. Ich will nicht jazzmäßig improvisieren. Das ist eine ganz spezielle Art, die mit mir nicht viel zu tun hat. Auch wenn ich gern mal Jazz höre hie und da. Solange es noch eine Melodie hat.
Wenn man sich aber Kurse zum Improvisieren anschaut, geht das meistens sofort in Richtung Jazz, mit irgendwelchen Akkorden mit hochgesetzten Zahlen wie hoch 9 oder hoch minus 5 oder oder sus irgendwas. Womit ich überhaupt nichts anfangen kann. Und das möchte ich auch nicht unbedingt lernen. Jetzt auf jeden Fall noch nicht. Vielleicht entwickelt sich ja später ein Interesse dafür, wenn ich besser spielen kann und mehr davon verstehe, was diese Akkorde sind.
Um in einem Stil wie Mozart oder Chopin improvisieren zu können, muss man aber viel besser spielen können als ich. Also das kann ich im Moment noch total vergessen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich das will. Denn die Zeiten sind vorbei. Diese Komponisten sind alle tot und haben unter ganz anderen Umständen gelebt. Sie haben tolle Musik geschrieben und tolle Sachen improvisiert, die ich zwar gern höre (wenn sie es aufgeschrieben haben und man es hören kann), aber ich persönlich lebe unter anderen Umständen.
Wenn ich mit einer Improvisation das ausdrücken wollte, was mich persönlich ausmacht (immer vorausgesetzt, ich hätte die Technik dazu), würde sich das ganz anders anhören. Ich weiß nicht, wie es sich anhören würde, aber auf jeden Fall anders. Weil ich nicht Bach oder Mozart oder Chopin bin, sondern eben ich. Was sie damals improvisiert haben, würde gar nicht zu mir passen. Hätte ich ihre Fähigkeiten, würde ich etwas anderes spielen.
Somit erübrigt es sich, deren Art lernen zu wollen. Es wäre nur sinnvoll, wenn ich meine eigene Art lernen könnte. Wozu es aber vermutlich auf höherem Niveau zu spät ist. Also begnüge ich mich mit einem niedrigeren Niveau, auf dem ich noch etwas erreichen kann. Das geht wohl nicht anders.
Und damit kommt man zum ärgerlichen Bereich des vermeintlich freien Improvisierens: je geringer der der einsetzbare Vorrat an instrumentaler Technik ist, umso mehr sackt das improvisieren in jenen Bereich, den andere Leute nicht so gerne anhören.
Das ist ja auch nicht der Grund, warum man frei spielen will. Nicht damit es andere Leute anhören. Es geht nur darum, seine eigenen Gefühle ausdrücken zu können. Wozu schon eine gewisse Technik gehört, wozu man aber nicht unbedingt ein Bach, Liszt oder Brahms sein muss.
.. Aus diesem Grund (dass man's selber zumindest gerne mithört) empfiehlt sich für den Einstieg ins Improvisieren die Beschränkung auf rein figurale Beschäftigung mit harmonischen Mustern (erweiterte Kadenzen, Pachelbl-Akkordfolge, Septakkordkette) und peu a peu Abweichungen, Erweiterungen von diesen Mustern - - wenn sich dabei allerdings an den Tasten die Frage stellt "mimimi, wie versetze ich diese sieben oder acht Akkorde in Bewegung?", dann ist es noch zu früh, um sich mit dem (nur scheinbar) "freien" improvisieren zu befassen.
Das würde aber bedeuten, so gut wie niemand hätte die "Berechtigung", sich damit zu befassen. Denn wer kann das schon so einfach? Sieben oder acht Akkorde in Bewegung versetzen? Das ist eine Menge und viel zu viel für einen Anfänger. Ein paar Arpeggien spielen in drei Akkorden, das kann man relativ schnell lernen. Und wenn man nicht so unbegabt ist wie ich
, kann man sogar rechts noch eine Melodie dazu spielen.
Ich würde sagen, das reicht erst einmal. Wenn ich das könnte, wäre ich schon froh.