Wenn Beethoven tatsächlich cantabilesempre geschrieben hätte. wäre mir das auch aufgefallen.
@mick
Ich würde die Sonate sicher nicht so spielen, finde Pogorelichs Interpretation trotzdem faszinierend.
@mick komplett d´accord - trotzdem halte ich eine ausufernde Diskussion a la
mimimi der da spielt aber scheiße versus
elender Depp, der spielt nicht scheiße, du schnallst das nur nicht für eine lästige Sackgasse (in der sich dann letztlich nur Eseleien anhäufen)
Was
@gastspiel ganz offensichtlich immer noch nicht begriffen hat, ist der nachprüfbare Umstand, dass die Partitur der Sonate op.111 selbst bei redlichster Untersuchung keine absolut eindeutigen Ergebnisse ermöglicht:
1. weiß niemand (!), welches Tempo genau (Metronomangabe) mit dem adagio der Arietta im 9/16 Takt gemeint ist*)
2. kann niemand mit absolutem Wahrheitsanspruch
beweisen, wie die Taktwechsel im Variationensatz gemeint sind (Takt = Takt oder Notenwert = Notenwert?)
3. weder bei klassisch-romantischen figuralen Variationen noch bei klassisch-romantischen Charaktervariationen kann eine stur durchlaufende Tempoeinheit als allgemeingültige Aufführungsregel praesupponiert werden (!!) **)
Damit haben wir gleich ZWEI variable Größen: 1. das Tempo selber (irgendwo zwischen 40 und 60) und 2. die rhythmische Progression abhängig von der Entscheidung, wie die Taktwechsel realisiert werden (s.o.) ...und als
ernst zu nehmende DRITTE variable Größe kommt hinzu, dass es rezeptionsgeschichtlich nicht falsch ist, jeder Variation ein eigenes atmendes Tempo zu geben (!!)
=> da ist es im
außerordentlich speziellen Fall der Sonate op.111 kein Wunder, dass die Aufführungsdauer extrem unterschiedlich ausfällt!!! In seinem Essays über die Temporelationen on op.111 weist Vitaly Margulis ausdrücklich darauf hin, dass die enorm unterschiedlichen Interpretationen von Arrau, Gulda, Yudina, Gould, Kempff, Serkin usw. allesamt
text- und werktreu sind (!!!!)
=====bevor weiter gelesen wird, ist zu beachten, dass bis hierher
noch kein einziges Wort über die Bedeutung, die Stimmung, den Charakter dieser Musik gewagt worden ist - es geht zunächst einzig darum, vorab den Notentext zu verstehen bzw. Entscheidungen für die Realisierung zu treffen (kurzum blabla wie "XY spielt das sehr ätherisch, YX lässt es sehr jenseitig klingen, ZY macht a la Thomas Mann" blabla - das alles spielt erstmal gar keine Rolle)======
Margulis hat in seinem Essay über die Temporelationen
Dutzende berühmter Aufnahmen und Referenzaufnahmen gleichsam positivistisch vermessen: welche Tempi nimmt Michelangeli, wie macht das Backhaus usw usf. Das Ergebnis der Vermessung ist ... erschütternd...
...der Verdacht, dass frei gewählte Tempi für jede Variation technische Schwierigkeiten kaschieren, scheint sich zu bestätigen: wer die 1. und 2. Variation etwas beschleunigt (Bewegungsenergie), der schafft die 3. Variation nicht in diesem Tempo und hat plötzlich einen etwas langsameren Puls (scheißegal wie fantastisch die 3. Variation gespielt wird: ist die 2. schneller, dann wird eine langsamere 3. Variation zur manuellen Konkurserklärung) - das machten/machen trotzdem viele (!!)
...wer die Taktwechsel als Notenwert = Notenwert deutet, der realisiert in der 2. Variation eine Verkürzung des Taktes um ein Drittel der Dauer (!!) Wählt man ca.50 für Arietta und 1. Variation, dann kann man die rechnerisch beschleunigte 2. Variation durchaus in diesem flott-tänzerisch wirkendem Tempo spielen und das klingt auch überzeugend und schön - aber die 3. Variation schafft niemand im dann erforderlichen Tempo***): das übersteigt die Grenzen der Spielbarkeit!!! Und entsprechend, wie die Vermessungen bewiesen haben, spielt jeder, der den Taktwechsel als Notenwert=Notenwert deutet, die 3. Variation langsamer als es die eigene Entscheidung erfordert...
=> Margulis witterte hier manuellen Pfusch (krass, oder?)
Des weiteren haben bzgl. der schwierigen 3. Variation die Messungen ergeben, dass hier nahezu alle für diesen furiosen Vitalitätsausbrauch (der so gar nicht in die vermeintlich ätherisch-jenseitige Sonate passt) ein Tempo von Taktdrittel ca. 40-54 realisieren****) - was darüber hinaus geht, kriegt man nur sehr selten zu hören (wobei hier die Obergrenze bei 60 liegt)
Margulis meinte, mittels dieser Vermessungen Indizien dafür gefunden zu haben, dass die ersten beiden Taktwechsel als Takt = Takt aufgefasst werden müssen: denn tatsächlich sind dann, egal ob man 40 bis 60 als Grundtempo für ein Taktdrittel wählt, alle Variationen
in einem Puls spielbar (er selber wählte Taktdrittel = 40, was meiner Ansicht nach zu behäbig ist)
Beim dritten Taktwechsel - 12/32 wird zu 9/16
ohne l´istesso tempo (!) - meint Margulis, dass wegen der fehlenden Angabe nun Notenwert gleich Notenwert gemeint sei, und spielt alles ab hier ganz extrem langsam (Taktdritte ca.30)... hierbei argumentiert er, dass Beethoven ab hier einen nicht notierbaren Takt gemeint hat, den man als "neun punktierte Sechzehntel in Relation zu den vorangegangenen Werten" bezeichnen müsste - - - plausibel oder zumindest nicht abwegig ist das, aber das Ergebnis ist schon sehr sehr langsam... Wie auch immer, in seiner als außerordentlich text- und werktreu gelobten Aufnahme spielt er das so. Übrigens vergleichbar extrem langsam spielen hier Pogorelich und Ugorski.
Das Tempo bei Margulis leidet für meinen Geschmack an der unerfreulich langsamen Entscheidung für Taktdrittel = 40, ich finde 52-60 cantabler und schöner (und gottlob gerade noch spielbar, wo es schnell wird) Aber das ändert nichts daran, dass sowohl seine Messungen als auch seine Argumente für die Deutung der Taktwechsel plausibel sind*****)
ist schon ein rästelhaftes, und je nach Tempowahl sauschwieriges Ding, diese "Testament-Sonate"
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*) Czerny/Moscheles geben hier Taktdrittel = ~60 an (woher sie das haben, sei einfachheitshalber dahingestellt (man bräuchte hier zu viel blabla))
Artur Kolisch hat in seiner umfangreichen Untersuchung der Beethovenschen Metronomangaben durch Vergleich (Taktarten/Tempo) Taktdrittel = ~50 als
relativ wahrscheinliche Richtlinie ermittelt
die Rezeptionsgeschichte (Aufnahmen) der Sonate zeigen, dass hier zwischen Taktdrittel =40-60 gewählt wird
**) hier gibt es (wie auch innerhalb von Sonatensätzen) nicht nur
atmendes Tempo (Anpassung an den jeweiligen Bewegungs- und Stimmungsverlauf), sondern auch ohne regulierende Tempovorgabe können Variationen ihr eigenes, vom Thema abweichendes Tempo erhalten (sehr oft wird in Variationenzyklen nach dem Thema das musikalische Material
in Bewegung gebracht (auch hier in op.111) und dabei beschleunigt - einzig wo bestimmte Vatriationen gleichsam als Zäsur ganz anders organisiert sind, wird von den Komponisten extra ein anderes Zeitmaß vorgeschrieben (vgl. Mozart KV 331)
***) das wäre hier rechnerisch bei ca. Taktdrittel = 76 MM, und das ist schlichtweg nicht spielbar
****) wer hätte gedacht, dass Kempff zu denen zählte, die die 3. Variation sehr schnell spielen? Übrigens Peter (nicht Rudolf) Serkin auch.
*****) hier gäbe es noch einiges zu einem Triolenzeichen im Manuskript zu sagen, welches laut Margulis nicht von Beethoven sein soll - - - das weiß niemand, aber es entscheidet über die Temporelationen... hierzu vielleicht ein andermal mehr