Was mich wundert: wie unreflektiert der Begriff "Urtext" verwendet wird - als ob es den einen, allgemeingültigen Urtext gäbe! Was einem Herausgeber im Idealfall (?) vorliegt:
- Entwürfe, Skizzen
- Arbeits-Manuskript (die bisweilen nur schwer lesbar sind)
- Reinschrift
- Erstausgabe
- Korrekturen des Komponisten in der Erstausgabe
- Abschriften von Schülern, bzw. Eintragungen des Komponisten in Schüler-Exemplaren
- Hinzu kommt evtl. Briefkorrespondenz, die sich auf das Werk bezieht.
Wovon wir bei alledem nichts wissen: Was ist mündlich verhandelt worden zwischen Komüponist, Verleger und Notenstecher? (Damals gab es noch keine Norm ISO 9000, nach der jeder Geschäftsvorfall dokumentiert werden mußte.)
Aus all diesen - mitunter sehr widersprüchlichen (!) - Informationen soll der Herausgeber eine "Urtext"-Ausgabe erstellen, die:
- lesbar sein soll,
- spielpraktischen Erfordernissen genügt,
- wissenschaftlich korrekt ist,
- preiswert ist,
- ...
Was nachher auf dem Papier steht, ist eine Lesart von vielen möglichen - eine Lesart, wie sie dem Herausgeber plausibel erscheint. Es gilt vieles zu bedenken, z.B.:
- Fehlen Akzidentien, oder war es eine bewußte Variante des Komponisten?
- Sollen Varianten in parallelen Stellen angeglichen werden?
Wer sich einmal mit der Materie beschäftigt hat, wird wissen, daß dies mitunter der Quadratur des Kreises gleicht. "Kritische Berichte", die auf abweichende Lesarten und Zweifelsfälle verweisen, werden von den meisten Musikern nicht zur Kenntnis genommen. Alternative Lesarten im Kleindruck in die Noten zu setzen macht den Notentext unübersichtlich. Und was tun mit den zahlreichen Fingersatz-Varianten, die Chopin seinen Schülerinnen in die Noten geschrieben hat?
Abschreckendes Beispiel wissenschaftlicher Akribie (in Sachen Lesbarkeit) sind die Chopin-Etüden, die Badura-Skoda beim Wiener Urtext herausgegeben hat. Graphisch besser gelöst (mit Graudruck) sind die Bach-Ausgaben des Alfred-Verlags (die allerdings andere Schwächen haben) ...
"Ach, Luise, das ist ein zu weites Feld ..."