Da er mir früh auffiel, weil er sehr sensibel ist und auch musikalisch, schlug ich vor, ihn für das Musikgymnasium vorzubereiten, wo er jetzt angenommen wurde.
Er spielt sehr gerne und auch mit Begeisterung.
Er und seine Eltern waren sehr stolz, dass er die Prüfung für das Musikgymnasium bestanden hat (da musste er auch Klavier vorspielen) und insgesamt ist der Kontakt gut und herzlich.
Liebe sweetchocolate,
du beschreibst einen schönen und herzlichen Kontakt zu deinem Schüler, den du seit 2,5 Jahren unterrichtest. Und nicht nur das: er spielt auch noch sehr gerne, mit Begeisterung und hat offensichtlich gute Fortschritte gemacht, so dass er die nicht leichte Aufnahmeprüfung fürs Musikgymnasium bestanden hat und nun in die 5. Klasse kommt. Du schätzt ihn als sensibel und musikalisch ein, er kann sich in Musik ausdrücken.
Das ist wunderbar in jeder Hinsicht und für euch beide eine Win-Win-Situation.
Leider ist es in letzter Zeit so, dass der Junge in den Unterricht kommt, und dann, nachdem er sein Stück vorgespielt hat, oft sofort in Tränen ausbricht, wenn ich etwas verbessern möchte.
Nachdem dein Schüler nun neu aufs Musikgymnasium gekommen ist, verändert sich sein Verhalten im Unterricht. Er fängt in der gemeinsamen Arbeit am Stück nach deinen Verbesserungsvorschlägen sehr schnell an zu weinen und das in fast jeder Stunde. Offensichtlich hat er ein großes Problem, das ihn traurig macht und sehr belastet.
Was dies für ein Problem ist, weiß niemand - jede Mutmaßung darüber verhindert, dem Problem auf die Spur zu kommen. Du weißt nur, dass das Problem sichtbar wird, wenn du Verbesserungsvorschläge machst. Was tun?
Wenn ein Ehepartner oder enger Freund ein großes Problem hat (schwere Erkrankung, Existenzangst wegen Jobverlust o.ä.), was machen wir dann? Wir stehen ihm bei, wir hören zu und zeigen ihm, dass er nicht allein ist mit seinem Problem.
Wenn nun ein Schüler, mit dem die Lehrerin einen sehr herzlichen Kontakt hat, der wissbegierig, aufmerksam, fleißig und talentiert ist, auf einmal ein Verhalten zeigt, das auf ein großes Problem von ihm hinweist, was machen wir denn dann?
Wir stehen ihm bei, wir hören zu und zeigen ihm, dass er nicht allein ist mit seinem Problem!
Denn du willst ihm ja helfen, liebe sweetchocolate, weil du ihn magst. Du bist aber ratlos, wie du das denn tun könntest. Gleichzeitig möchtest du weiterkommen im Unterricht und wieder so mit ihm arbeiten können wie vorher.
Ihr wisst ja (vermutlich), dass ich in der Kommunikation nach Thomas Gordon ausgebildet bin. Das ist keine Therapie, sondern ein Kommunikationsmodell. Eine Ausbildung ist leider in einem Forumsbeitrag nicht sinnvoll zu vermitteln. Trotzdem ein paar Anmerkungen:
Du kannst das Problem deines Schülers nicht lösen, du kannst ihm aber helfen, seinem Problem auf die Spur zu kommen und besser damit umzugehen, möglicherweise es sogar selbst zu lösen! Dazu hilft Annahme, Akzeptanz und Wertschätzung, außerdem Vertrauen in den Schüler, dass er sein Problem selbst lösen kann. Du hast auch etwas davon, denn du verstehst dann deinen Schüler besser und ihr könnt im besten Fall wieder gemeinsam wie zuvor arbeiten.
Ein wunderbares Mittel und Handwerkszeug einer gelungenen Kommunikation , wenn der Andere ein Problem hat, ist das Aktive Zuhören. Es fungiert als Spiegel, weil es keinerlei Wertung des Zuhörers und seines Verhaltens enthält, sondern eine Beschreibung des persönlich wahrgenommenen
Gefühls und
Inhalts. Der Andere (=Problembesitzer) erfährt durch das Aktive Zuhören auf einfühlsame Weise, wie du als Zuhörer ihn und sein Verhalten wahrnimmst. Dadurch kommt er in die Lage, sein Verhalten zu reflektieren und ggf. zu ändern. Es kann sogar sein, dass du gemeinsam mit ihm der Ursache für sein Weinen auf die Spur kommst. Als Beispiel mal zwei Bilder:
Menschen benutzen in ihrer Kommunikation häufig Codes. Hilfreich ist es für eine klare Kommunikation, diese Codes zu entschlüsseln, zu dekodieren. Oben im Bild benutzt der Teenager für ihr Gefühl der Sorge den Code "Wird der Test schwer sein?" Die Mutter, nach einem Gordon-Familientraining :D, nimmt die Besorgnis oder Angst ihrer Tochter wahr und sagt zum Beispiel: "Du machst dir wirklich Sorgen, wie du bei der Prüfung abschneiden wirst!" Und schon ist die Sache geritzt: die Tochter fühlt sich verstanden und ist nicht allein mit ihrer Sorge. Carl Rogers sagte einmal: "
Die Gedanken und Gefühle eines anderen völlig zu verstehen, einschließlich der Bedeutungen, die sie für ihn besitzen, und von diesem Menschen wiederum vollkommen verstanden zu werden, das ist eines der lohnendsten und allzu seltenen menschlichen Erlebnisse.“
Die Mutter nimmt also nicht ihrer Tochter ab, den Test zu schreiben o.ä. Sie schenkt ihr aber Verständnis und Annahme. Die Tochter ist in der Lage, ihre Angst zu teilen, die dann logischerweise abnimmt. Es kann sogar sein, dass das Gespräch weitergeht. Indem die Mutter das Verhalten ihrer Tochter nicht bewertet, traut diese sich vielleicht zu sagen: "Naja, um ehrlich zu sein, habe ich mich sehr schlecht vorbereitet." Und kommt so in die Lage, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Oft liegt hinter einem vordergründigen Problem ein ganz anderes, s. das Zwiebelbild.
Aktives Zuhören beinhaltet also das Gefühl, das der Zuhörer beim Anderen wahrnimmt und den Inhalt (hier "Test schreiben"). Es ist natürlich ein langer Prozess, dieses Handwerkszeug gebrauchen zu lernen. Du kannst trotzdem auch jetzt schon in ähnlicher Weise auf deine Unterrichtssituation reagieren, in dem du ganz auf deine Wahrnehmung vertraust und diese äußerst.
Wenn du Traurigkeit wahrnimmst hinter dem Weinen des Schülers, könntest du sagen: "Du bist jetzt wirklich sehr traurig." Oder "Du bist jetzt wirklich sehr traurig, weil ich dich verbessert habe/nicht vollkommen zufrieden bin mit deinem Spiel." Dadurch kommt etwas in Gang. Vielleicht weint der Schüler noch mehr. Lass ihm Zeit, lass ihn ausweinen. Sei einfach bei ihm und halte es aus, dass er weint. Dann kannst du wieder aktiv zuhören wie zum Beispiel: "Du bist so traurig, wenn ich etwas zu deinem Spiel sage, dass du dann gar nichts mehr von dem Stück in der Stunde wissen willst." Es ist sehr erstaunlich, wie schon Kindergartenkinder auch verbal auf das Aktive Zuhören reagieren. Dein Schüler wird auch reagieren. Sei du einfach du selbst dabei. Spiele keine Rolle, sondern achte auf dich, auf das, was du wahrnimmst. Du kannst sogar deine Ratlosigkeit äußern (kein Aktives Zuhören). Egal, was du machst: wenn deine Haltung eine des Verstehen Wollens, der Anteilnahme und Annahme ist, wird dein Schüler dies merken. Das wird positive Auswirkungen haben.
Im Übrigen ist der Wechsel in die weiterführende Schule ja oft mit einem starken Nachlassen für ein halbes Jahr im Klavierunterricht verbunden. Vielleicht mal Improvisieren, Musik von einer anderen Seite erleben, Komponieren u.a. kann einen Ausgleich schaffen. Mit ihm das Üben zu üben im Unterricht ist sicher auch hilfreich, damit er lernt, dass es tatsächlich immer "klappt", wenn er die richtige Übestrategie verwendet. :))
Liebe Grüße und viel Erfolg!
chiarina