Hi, Klavigen!
Es freut mich, daß Du am Gespräch wieder teilnimmst. Ich sage das ganz ironiefrei.
Und in Deinen jüngsten Beiträgen taucht etwas auf, womit Du bis jetzt gegeizt hast: Argumente.
So kommen wir uns näher - nicht inhaltlich, das wird bei diesem Thema nicht zu erwarten sein;
aber verfahrenstechnisch: dadurch daß sich ein Liebhaber und ein Verächter der Neuen Musik
austauschen, was für beide Seiten sehr lehrreich sein kann.
Muss man sich wirklich damit beschäftigen ?
Muß man nicht, wie schon oft genug gesagt. Mein bisheriges Problem mit Dir bestand darin,
daß Du es dennoch getan, Dich ohne Sachkenntnis zu dieser Musik geäußert hast, und zwar
abwertend.
Zum Vergleich: Ich bin kein Freund der italienischen Oper. Für mich hört sie mit Monteverdi auf
und wird erst ab Puccini wieder interessant. Alles dazwischen ist für mich terra incognita.
Trotzdem - wenn ich sie unfreiwilligerweise höre, beschleicht mich immer wieder die dumpfe Ahnung,
daß das gute Musik ist - nur halt mir nicht zugänglich. Nur - von meinen Schwierigkeiten mit dieser Musik
auf ihre Qualität zu schließen, davor würde ich mich hüten, nicht aus Angst, mich lächerlich zu machen,
sondern weil es unredlich wäre.
Zweites Beispiel: Jazz. Ich habe in einer Diskussion mit Hasenbein schon mal bekannt,
daß mir, um ihn zu verstehen, vermutlich ein Gen fehlt. Ich empfinde ihn als ziemlich wirr, hektisch, enervierend
(den Jazz, nicht Hasenbein), in seiner moderneren Ausprägung als schlechten Abklatsch der Neuen Musik.
Als Aussagesatz über den Jazz bekämest Du so etwas von mir aber nicht zu hören - weil es unredlich wäre,
etwas herunterzuputzen, nur weil es über mein Verstehen und Begreifen geht.
Es freut mich, daß Du zwischendurch auch leisere Töne anschlägst und bekennst:
Mir fehlen auch - das gebe ich zu - die Kenntnisse, wie ich diese Musik beurteilen sollte...
Dann wäre meine einzige eindringliche Bitte an Dich:
Sag, was immer Dir zu dieser Musik einfällt,
aber beurteile und bewerte sie nicht. Und es gefällt mir, wenn Du Beobachtungen schilderst -
nicht etwa, weil ich Ihnen zustimme, sondern weil man sich darüber austauschen kann:
Ich halte das für konstruiert, und es fehlen mir die Elemente der musikalischen Sprache -
wie verläuft da der Aufbau der Spannung? Gibt es Höhepunkte oder keine?
Auch das rhythmische Element vermag mich nicht zu fesseln.
Du beschreibst sehr genau, daß der "fundamentalistischen" Neuen Musik etwas fehlt,
das die traditionelle Musik durch Melodiebau, (Kadenz-)Harmonik, Rhythmik,
Periodizität, formale Symmetrie zu gliedern pflegt. Nun kann man sich darüber ärgern
oder muß aufhören, in Neuer Musik Gliederungselemente zu suchen,
auf die sie bewußt verzichtet - wenn man nicht leer ausgehen will.
Darüberhinaus habe ich mich auch schon bei vielen Werken Neuer Musik gelangweilt,
weil in ihnen nichts knistert - ganz so, wie Du es beschreibst: kein Spannungsbogen,
aber auch keine richtige Statik, nur ein hilfloses Herumlavieren. Das gibt es wirklich.
Und rhythmische Überdifferenzierung, wie Du sie beschreibst, kann tatsächlich
so ermüden, daß man sich zu langweilen beginnt. Das ästhetische Mißlingen einer Komposition
erlaubt aber noch lange nicht, die gesamte Stilrichtung abzuqualifizieren.
Auch das wäre ein Fall von unzulässiger Sippenhaft.
Herr Lachenmann stellt sich ja in seinem Erneuerungsdrang fast auf eine Stufe mit Bach oder Schönberg .
Ich hatte voriges Jahr die Gelegenheit, Helmut Lachenmann in einer einwöchigen,
ihm gewidmeten Konzertreihe erleben zu können, den Menschen und seine Musik.
Es gab öffentliche Konzertproben, denen er mit dem jeweiligen Riesenformat von Partitur folgte.
Diese Information ist wichtig: René Gulikers dirigierte, das Orchester spielte,
Lachenmann sah konzentriert in seine Partitur. Mit einem Mal sprang er auf,
ging diagonal durch den halben Raum, gab dem Dirigenten ein Zeichen,
und René Gulikers klopfte ab. Lachenmann trat zu einer der Cellistinnen und sagte:
"Sie haben das Abwärtsglissando nur bis zum e gespielt. Bitte spielen Sie es hinunter bis zum c."
In diesem hochdissonaten, überaus dichten Geräusch- und Tonsatz hatte der Mann
gehört (nicht gesehen), daß ein Celloglissando unvollständig war!
Als Scharlatan kannst Du ihn also nicht bezeichnen.
...sind das nicht Stückchen, wie sie jeder Kompositionslehrer en masse herstellen kann?
Kommt auf den Lehrer an. Richard Rudolf Klein hätte es jedenfalls nicht gekonnt.
Ob sich das noch mal ändert - oder ob ich mich noch mal ändere - wer weiss ?
Noch werden Wetten angenommen.
Eine gute Restnacht wünscht Dir, allen anderen und sich selbst
Gomez
°