Zeitgenössische Musik, die man sich anhören kann

Guten Abend!

Revenons à nos moutons:

Zitat von http://www.claussteffenmahnkopf.de/...us-und-der-Paradigmenwechsel-in-der-Musik.pdf
"Die mit der Regression des als Musik Geltenden einhergehende Paralyse
des ästhetisch-kompositionstheoretischen Diskurses zugunsten eines
entintellektualisierten Aktivismus nach Maßgabe pekuniär-machtpolitischer Kräfteverhältnisse
ohne Korrektive öffentlicher Kunstkritik – unbeschadet der subkutanen Kontinuierung
der musikalischen Eigenlogik – erschwert den Einstieg in die Sache ..."

Den in die Plauderecke verschobenen "Komplexismus"-Thread betrachte ich
als einen Ableger der hiesigen Diskussion - und meinen Kommentar zu dem schönen Zitat
halte ich hier für besser aufgehoben, weil sich anhand der Figur Claus-Steffen Mahnkopfs
paradigmatisch zeigen läßt, wie es um die retrospektiv orientierte Avantgarde bestellt ist.

Alle Versuche, das Mahnkopfsche Desperanto ins Deutsche zu übersetzen,
sind ein netter Zeitvertreib, aber für den Erkenntnisgewinn bedeutungslos.
Ich habe - rein zufällig - den Schlüssel zum Verständnis dieser Texte entdeckt,
mit einem Verfahren, das der Inlingua-Sprachschule entlehnt ist:
Ich habe einfach angefangen zu lesen, ohne mich von Verständnisfragen ablenken zu lassen,
1998 die "Kritik der Neuen Musik", 2006 die "Kritische Theorie der Neuen Musik"
und 2007 "Die Humanität der Musik" - dazwischen kleinere Essays in Suhrkamp-Publikationen
und dem Periodikum "Musik und Ästhetik".

Ein Dauerlamento durchzieht alle diese Texte, der Tonfall permanenten Beleidigtseins -
auch in dem obigen Zitat sofort erkennbar. Was ist die Ursach' aller solcher Plagen?

Deutschland steht kurz vor dem Rückfall in die Barbarei - die Regression
und der Opportunismus sitzen an den Schalthebeln der Macht. Ganz Deutschland?
Nein, eine kleine Schar unbeugsamer Künstler leistet Widerstand. Sie hat
die Kritische Theorie mit der Muttermilch aufgesogen, an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg
die Hürden der deutschlandweit schwersten Aufnahmeprüfung genommen, um beim Besten der Besten,
Klaus Huber, Komposition zu studieren, ist zusätzlich zu Brian Ferneyhough gepilgert,
hat sich in die Gedankenwelt von Habermas und Derrida vertieft, schwärmt für George Steiner
und die Suhrkamp-Kultur, versteht Thomas Pynchon, liest abermals Habermas
und schreibt nun die expressivistischsten, komplexistischsten Poly-Werke der Zweiten Moderne,
die sie programmatisch fordert und zugleich in ihrer Arbeit schon verwirklicht sieht -
und was passiert? Nichts. Die Öffentlichkeit nimmt kaum Notiz von ihr,
ihre Werke werden zu selten aufgeführt, die Musikgeschichtsschreibung
verschließt auf törichte Weise die Augen vor den Heroen dieser Zweiten Moderne.
Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland.
Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.

Nahezu jedes Wort im vorigen Absatz ist ein indirektes Zitat aus CSM-Schriftgut,
auf Platz Eins natürlich die "mit der Muttermilch aufgesogene Kritische Theorie".
Die ganze Trauerode wird verständlich, wenn man sie aus dem Plural in den Singular übersetzt:
Claus-Steffen Mahnkopf spricht notorisch von sich selbst - im Pluralis Maiestatis -,
der oben skizzierte Lebenslauf ist sein eigener, das Lob der tapferen Résistance-Künstler ein Eigenlob.
Seine drei großen Buchpublikationen sind nichts als dickleibige Werbebroschüren in eigener Sache.
Wie so viele Menschen heute leidet er unter einem Aufmerksamkeitsdefizit,
und die narzistische Kränkung darüber äußert sich nicht nur im beleidigten Tonfall
über die Ignoranz der Welt, sondern auch in der Selbstbeweihräucherung.

Vielleicht ist es besser, von dieser prahlerischen Musikschriftstellerei abzusehen,
wie in dem vergleichbaren Fall Karlheinz Stockhausens, und sich nur der Musik zuzuwenden.
CSM sieht musikalisch sein Heil in einer Steigerung der Informationsdichte - mit dem Ziel
einer planmäßigen Überforderung der Hörer. So glaubt er, seinen Lehrer Ferneyhough verstanden zu haben,
dessen Idee von "complexism" er aufgreift und mit "Komplexismus" als registered trademark
für Deutschland einführt. Es ist ihm ernst damit. Schon seine Dissertation beschäftigt sich
mit Schönbergs Erster Kammersymphonie, dem Gründungsdokument in puncto Komplexität.
Aber wie schon ein paar Beiträge früher gesagt: CSM huldigt damit einem merkwürdigen Fortschrittsglauben,
dem klassischen Überbietungszwang, der sich seit Beethoven im Vertrauen auf die prinzipielle
Sinnhaftigkeit einer Zunahme satztechnischer und harmonischer Komplexionen bemerkbar macht.
Das wäre aber noch kein seriöses Argument gegen die kompositorische Praxis,
wenn etwas Gescheites dabei herauskäme. Bleibt mir nur, einen Ausspruch Cocteaus
zu paraphrasieren: Man sollte als Künstler wissen, wie weit man zu weit gehen darf.
Die grenzenlose Steigerung der Anzahl realer Stimmen, der Satzdichte ist natürlich möglich -
aber es wäre banausisch zu glauben, daß damit eine Vertiefung des Ausdrucks einherginge.
Zu große Informationsdichte erzeugt im Gegenteil Langeweile, Desinteresse -
weil das Gehirn einfach abschaltet. Berg - im dritten seiner "Drei Orchesterstücke op.6"
und im Finale seines "Kammerkonzerts" - und Ives - in vielen seiner Orchesterstücke -
gelingt die planmäßige Überforderung, weil sie die Anzahl der simultan erklingenden Ereignisse
so beschränken, daß man als Hörender immer noch glaubt mitzukommen.

Dazu nützt offenbar die schönste Klassenprimus-Weisheit nix:
um zu begreifen, daß Komplexion und Reduktion zusammenhängen.

Gruß, Gomez

,
 
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Wie so viele Menschen heute leidet er unter einem Aufmerksamkeitsdefizit,
und die narzistische Kränkung darüber äußert sich nicht nur im beleidigten Tonfall
über die Ignoranz der Welt, sondern auch in der Selbstbeweihräucherung.

(...)
CSM sieht musikalisch sein Heil in einer Steigerung der Informationsdichte - mit dem Ziel
einer planmäßigen Überforderung der Hörer. (...) Aber wie schon ein paar Beiträge früher gesagt: CSM huldigt damit einem merkwürdigen Fortschrittsglauben,
dem klassischen Überbietungszwang, der sich seit Beethoven im Vertrauen auf die prinzipielle
Sinnhaftigkeit einer Zunahme satztechnischer und harmonischer Komplexionen bemerkbar macht.
Das wäre aber noch kein seriöses Argument gegen die kompositorische Praxis,
wenn etwas Gescheites dabei herauskäme.

(...)
Dazu nützt offenbar die schönste Klassenprimus-Weisheit nix:
um zu begreifen, daß Komplexion und Reduktion zusammenhängen.

lieber Gomez,

mit Vergnügen habe ich Deine wohlformulierte und nicht ganz polemikfreie Kritik gelesen - in Anlehnung an einen Brahmsbrief könnte man sagen, dass eine Professorenstelle für Komposition zu Leipzig womöglich durch Magnetismus zustande kam? :D

herzliche Grüße,
Rolf
 
Hallo lieber Gomez,

Auch wenn ich solchen einseitigen Äußerungen immer mit einer gewissen kritischen Distanz gegenüberstehe, nehme ich doch immer was Wertvolles und Erkenntnisreiches für mich mit.

Vielen Dank dafür!
 
Zu große Informationsdichte erzeugt im Gegenteil Langeweile, Desinteresse -
weil das Gehirn einfach abschaltet. Berg - im dritten seiner "Drei Orchesterstücke op.6"
und im Finale seines "Kammerkonzerts" - und Ives - in vielen seiner Orchesterstücke -
gelingt die planmäßige Überforderung, weil sie die Anzahl der simultan erklingenden Ereignisse
so beschränken, daß man als Hörender immer noch glaubt mitzukommen.

Dazu nützt offenbar die schönste Klassenprimus-Weisheit nix:
um zu begreifen, daß Komplexion und Reduktion zusammenhängen.,


Vielen Dank, Gomez, wieder einmal für deinen tollen Beitrag!!!
Liebe Grüße

chiarina
 
Lieber Gomez,

ich möchte mich dem Dank anschließen. Berauscht und besoffen bin ich von solchen informativen komplexen Texten. Besonders Deine Aufschlüsse über die Gruppierung der Neuen Musik-Szene im Artikel #288 sind sehr sorgfältig und mit viel Feingefühl umschrieben.

Ich kann nichts zu Deinen Texten sagen, nichts in Frage stellen, Kritik üben, konstruktiv streiten. Deine Texte sind Anregungen und sehr lohnenswert, sie immer wieder zu lesen. Dein Wissen ist enorm wie das Glück, daß Du es hier offen verschenkst (gilt auch Rolf).

Liebe Grüße
Kulimanauke
 
Hallo Gomez,

auch ich schliesse mich den anderen an und danke für die tollen, spitz formulierten Beiträge!

Ich habe mir noch keine endgültige Meinung zur "New Complexity"-Richtung bilden können (eigentlich habe ich keine endgültige Meinung zu irgendwas :p ), der Hauptgrund ist, dass ich vieles zu wenig kenne.

Von Mahnkopf habe ich noch nie etwas gehört, und ich bezweifle, ob man ausgehend von seinen Schriften/Werken der ganzen New Complexity attestieren kann, auf einem künstlerischen Holzweg zu sein.

Ich habe in einem früheren Beitrag Michael Finnissy erwähnt, der (glaube ich) neben Ferneyhough (anscheinend einer der Lehrer von Mahnkopf) zur namensgebenden Generation der New Complexity gehört. Ich fand einige seiner Klavierwerke unmittelbar (d.h. ohne Verständnis des Hintergrunds) faszinierend, z.B. Verdi Transcriptions oder English Country Tunes. Ich habe den Eindruck, dass hier eine starke individuelle Künstlerstimme spricht.

Ich frage mich auch, ob es innerhalb der New Complexity evtl. unterschiedliche Ausrichtungen gibt, eher philosophisch-vergeistigter Natur (das scheint bei den Mahnkopf-Texten m.E. schon fast karikaturhaft durch) und eher vitalerer, durchaus auch spielfreudig-(ultra)virtuoser Natur (als solche können z.B. die English Country Tunes durchaus wirken, finde ich).
 
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Hai Gomez

Deutschland steht kurz vor dem Rückfall in die Barbarei - die Regression
und der Opportunismus sitzen an den Schalthebeln der Macht. Ganz Deutschland?
Nein, eine kleine Schar unbeugsamer Künstler leistet Widerstand. Sie hat
die Kritische Theorie mit der Muttermilch aufgesogen

Wo er Recht hat, hat er Recht - das muß man neidlos zugeben.
Ins von Dir so hübsch gezeichnete Bild paßt dann auch, daß er
- könnts denn anders sein? - mit dem Bezug auf ausgerechnet
(! - Kraus) sich selbst den sprichwörtlich impotenten Bock zum
Gärtner macht.
Das allerdings ist selbstverständlich genauso, wie wenn Brendel
Schubert spielt, und, als wär das nicht schon genug, zu allem
Überdruß auch noch - erklärt....
D.I.E. V.E.R.S.C.H.W.Ö.R.U.N.G. ist mithin keine bloß deutsche.

Mit relativierendem Gruß

Der Antichrist
 
Lieber Antichrist,

auch Dein Wissen ist enorm wie das Glück, daß Du es hier offen verschenkst. 8)

Ehrfuchtsvoll
gubu
 

Heute abend um 22.25 h auf Arte:

Jens Joneleits: "Metanoia" - Über das Denken hinaus

Uraufführung

neue Musik, die man sich - wenn man will - anhören kann.

Genauere Informationen siehe ---> "Mögt ihr Oper?"


Gruß, Gomez
 
...Threadthema verfehlt. sorry
 
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