Aus der geschlossenen Station
Welche zeitgenössische, moderne "ernste" Musik kann sich der gemeine Mensch anhören,
ohne das Gefühl zu haben, der Komponist gehöre in eine geschlossene Anstalt?
Ich meine Musik, die etwas ausdrückt und die wir mit unserem Musikverständnis
und aus unserer Historie heraus verstehen und begreifen können. Nicht Musik,
die nur ihrer Selbst willen besteht oder um das musikinformierte Publikum zu schockieren und zu verwirren...
Guten Abend, Tinte!
Deine Frage löst bei mir das Bedürfnis aus zu verteidigen, was Du angreifst,
und wenn mich das in die Off-Topic-Schmuddelecke treibt, kann ich's auch nicht ändern.
Wahrscheinlich kennst Du kaum etwas von der Musik, die Du abqualifizierst -
in dem kurzen Zitat aus Deinem Text sind mindestens vier Falschaussagen enthalten.
Musik, die Dich die Komponisten in eine geschlossene Anstalt hineinwünschen läßt,
ist sehr wohl ausdrucksfähig, aus der Geschichte heraus zu verstehen,
will keineswegs allein schockieren oder verwirren - und das Wesensmerkmal
aller guten Musik ist es, für sich zu bestehen.
Die "Musik aus der geschlossenen Anstalt" muß niemandem gefallen.
Aber man sollte ihr soviel Respekt gegenüberbringen wie jeder anderen Sache auch,
die mit Redlichkeit betrieben wird - indem man die Hintergründe ihrer Entstehung zu begreifen versucht.
Es kann heute offenbar kaum noch jemand nachvollziehen, was vor exakt hundert Jahren
bildende Künstler, Schriftsteller und Komponisten bewogen hat, dem Ideal einer hermetischen Kunst nachzujagen,
an der man sich abarbeiten muß (um für diese Mühsal durch Erkenntnisgewinn belohnt zu werden).
Seit der Zeit Schumanns - heißt es in einem apokryphen Adorno-Zitat -
ist "die Musik auf der Flucht vor dem Warencharakter der Banalität".
Man muß sich die photorealistischen Bilder der Gründerzeit, die Kaiser-Geburtstags-Lyrik
oder die Gebrauchsmusik-Potpurris jener Tage vor Augen führen, um zu verstehen,
wovor Künstler in Frankreich, im deutschsprachigen Raum, in Rußland unabhängig voneinander geflohen sind:
vor der Zumutung, das Amüsierbedürfnis eines immer denkunwilligeren Publikums befriedigen zu müssen,
das nur die Reproduktion des schon Vertrauten zuläßt, bei allem Unvertrauten
aber wutentbrannt auf seinen Hausschlüsseln zu pfeifen beginnt.
Insofern hat sich beim Übergang zur künstlerischen Moderne mehr vollzogen
als nur der Wechsel einer Stilepoche. Die Künstler haben ihrem Publikum den Konsens aufgekündigt,
freilich um dem Publikum genau das zu geben, worauf es ein Anrecht hat: Ehrlichkeit.
Es ist insofern konsequent, daß "zeitgenössisch" und "modern" hier fast synonyme Begriffe sind -
weil sich an dieser Haltung bis heute prinzipiell nichts geändert hat.
Es ist deshalb verständlich, daß Gründungsdokumente der Neuen Musik wie Bartoks "Allegro barbaro"
oder Strawinskys "Sacre" als Beispiele für zeitgenössische Musik auftauchen.
Man kann noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß Werke wie Schönbergs
"5 Orchesterstücke op.16" (1909) oder Bergs "Drei Orchesterstücke op.6" (1913) in ihrer schockierenden Wirkung
moderner sind als das meiste, was heute in spätavantgardistischen Zirkeln à la Donaueschingen produziert wird.
Übrigens bin ich der lebende Beweis dafür, daß man die ausgesprochene Schönheit dieser Musik
lieben kann - mit derselben Intensität, die mich Schubert, Bach, Josquin Desprez oder Satie lieben läßt -,
gebe ich (mit Bedauern) zu, daß die Moderne längst zu Modernismus verkommen ist,
daß sich mit Steve Reich oder Arvo Pärt, deren Musik ich ebenfalls schätze,
Ansätze einer nachmodernen Kompositionstechnik entwickelt haben.
Viele Grüße!
Gomez
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