Es ist etwas mühselig für mich, dauernd Dinge richtig zu stellen, die von Leuten vertreten werden, die sich mit der ganzen Sache überhaupt nicht auskennen.
Ich-Botschaft meinerseits: Ich spüre das und ich fühle mich unbehaglich dabei. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, beckmesserisch aufzutreten oder eine Debatte zu führen (Du kennst den Unterschied zwischen Debatte und Diskussion).
Liebe Chiarina, ich schätze den Impetus, den Du in die Darlegung Deiner grundsätzlichen Herangehensweise legst. Wie ich bereits sagte, grundsätzlich teile ich Deine Sicht. Wenn ich mit Lebewesen (egal ob menschliche oder nichtmenschliche) zusammentreffe bzw. zusammenarbeite, steht am Anfang immer der Respekt vor dem Gegenüber ("goldene Regel").
Mein
Bedürfnis ist, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht.
Bleibt dieses mein Bedürfnis unbefriedigt, hängt meine Reaktion vom Setting ab. Normalerweise würde ich aus der Situation gehen (verkürzt: "Kein Bock auf Ar***er"), die meisten anderen sicher auch.
Situationen, die die Fortsetzung der Interaktion erfordern (Familie, Arbeitsplatz, [Schul]Unterricht), gehören leider nicht zu den Settings, aus denen man sich einfach herausnehmen kann. Es geht um existenziell wichtige Ziele, die ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verhandelbar sind.
Menschen sind Lebewesen, die in Gruppen leben, seit Millionen von Jahren, und als solche haben sie das
Bedürfnis nach Führung (Regeln). Wo es keine Regeln gibt, keine "grundsätzliche Richtung", wo es "egal" ist, wie Einzelne oder Untergruppen sich verhalten, fühlen Menschen sich unsicher und damit unwohl. Auf welche Weise die Regeln aufgestellt bzw. ausgehandelt werden, ist (fast) gar nicht so wichtig, wichtig ist, dass es Regeln gibt und dass die Regeln für alle gelten (dass alle sich zumindest grundsätzlich aus Einsicht in die Notwendigkeit den Regeln
unterwerfen).
Es handelt sich NICHT um eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der zwei "sich ihre Bedürfnisse mitteilen"
Begegnungen auf Augenhöhe in diesem Sinn gibt es nur in der ("echten") Freundschaft. In allen anderen Interaktionen gibt es ein mehr oder weniger komplexes Geflecht aus Rollen, Regeln, Hierarchien und Interessen. Das ist nichts Böses, sondern entspricht einem evolutionär verankerten Grund
bedürfnis. In jeder zufällig zusammengewürfelten Gruppe werden sofort Regeln aufgestellt und Hierarchien gebildet (falls es zuvor keine geben sollte).
Ein Mensch MUSS, damit er ein reifer, in einer Gesellschaft funktionierender, verantwortlicher Mensch werden kann, auch lernen, damit umzugehen, dass es Situationen gibt, in denen es NICHT um "seine Bedürfnisse" (was sind eigentlich die "Bedürfnisse" eines Pubertierenden?? Hm?) geht, sondern denen er sich unterordnen muss, und dass, wenn er das nicht will oder nicht kann, er nicht mehr Teil dieser Situation sein kann.
Die Interdependenz ist, behaupte ich, so groß, dass der Einzelne auch nicht glücklich/zufrieden sein kann ohne dass sein Grundbedürfnis nach Führung (Regelsetzung) befriedigt wird. Die individuelle Autarkie ist nicht möglich außer im Rahmen (gern auch in der Reibung, der zwischenzeitlichen Abgrenzung) von übergeordneten Regeln. Das weiß das Pubertier vielleicht noch nicht. Das muss es aber dringend lernen, sonst wird es die Erfüllung seiner Bedürfnisse rasch ganz weit herunterschrauben müssen. Behauptung: Ein evolutionär soziales Wesen (Mensch, Hund, Pferd etc.), das sich a-sozial verhält, handelt entgegen seinen eigentlichen Bedürfnissen und wird garantiert unglücklich.
Glücklicherweise leben
wir in einer Gesellschaft, deren Regeln (weitestgehend) vernünftig nachvollziehbar und vernünftig wünschenswert sind. Theoretisch werden Regelbrecher sanktioniert, solange die Zahl der Regelbrecher sich in einem beherrschbaren Rahmen hält. Das ist unser unausgesprochener gesellschaftlicher Vertrag. Alle unterwerfen sich den Regeln, leben ihre Bedürfnisse innerhalb des Regelrahmens aus, verzichten auf die Selbstverteidigung ihrer Bedürfnisse ("Rechte") gegenüber Regelübertreter – unter der Bedingung, dass die beauftragte Macht das für uns nach ebenfalls festgelegten Regeln übernimmt.
Es muss von heranwachsenden Menschen gelernt werden, akzidentielle Bedürfnisse zu unterdrücken, um das grundlegende Bedürfnis (Leben und Sicherheit) gewährleistet zu bekommen.