pianovirus
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Zum Thema "Recycling" und "Wort-Text-Kongruenz / Musik als subjektive Gefühlsgrundlage", hier anküpfend an @Gomez:
Zeitnot oder Schaffensökonomie oder einfach der Wunsch, einem gelungenen Satz durch Aufnahme in ein "gewichtigeres" Werk zum Fortleben zu verhelfen (parodiert wurde nach alter Tradition ausschließlich durch "Erhöhung", weltlich zu geistlich), spielte gewiss eine Rolle, wobei eine komplette Wiederverwendung mit anderem Text ja doch nur unter engen Voraussetzungen und nicht völlig entgegengesetztem Affekt gelingen konnte und kann.
Etwas anderes ist die von @mmueller52 beklagte vermeintliche "Austauschbarkeit", floskelhafte Kompositionsweise, die sich aber eben doch vorrangig dort findet, wo elegante, solide gemachte "Gebrauchsmusik" benötigt und geschrieben wurde – "ohne die Vorgabe, bis in alle Ewigkeit Maßstäbe setzen zu müssen", wie @Rheinkultur (und in anderen Worten @Gomez) weiter oben schön treffend geschrieben hat. Floskelhafte Musik nach "Schema F" findet sich in allen Epochen. Man muss also, wenn man Epochen miteinander vergleichen möchte, passende Vergleiche anstellen und immer auch das zeitliche Nebeneinander verschiedener Strömungen im Auge (bzw. Ohr) behalten und dann – epochenübergreifend – vor allem auf die Verschiebung der Gewichte zwischen diesen Strömungen achten: Im 19. Jahrhundert hatte die weltliche Instrumentalmusik mit dem Gattungen Sinfonie und mit dem auf sinfonische Dimensionen angewachsenen Konzert ein völlig anderes Gewicht als die weltliche Instrumentalmusik in Renaissance und Barock, in einer Zeit, zu der die (geistliche) Vokalmusik unangefochtenen Vorrang hatte.
Ein andersgearteter Aspekt der Wiederverwendung existierenden Materials (neben dem Aspekt der "Schaffensökonomie") ist aber, dass die Idee des Originalgenies eine Idee des 19. Jahrhunderts ist (wie @Gomez de Riquet ja auch schon schreibt), und über viele Jahrhunderte davor die Imitatio, also der kreative Umgang mit bereits existierendem Material nicht nur als Notbehelf, sondern auch und gerade als höchst ehrenvolles Unterfangen angegangen wurde und es keinesfalls als "leichter" angesehen wurde, ein gelungenes Werk unter Einbeziehung bereits existierenden Materials zu schreiben.
Hier möchte ich nachdrücklich widersprechen, denn wiederum gilt, dass man das zeitliche Nebeneinander verschiedener, teils auch gegensätzlicher, Strömungen in Auge bzw. Ohr behalten muss:
Tatsächlich drehte sich eine der wohl ersten (?) neuzeitlichen musiktheoretischen und -praktischen Kontroversen in großer Heftigkeit um (u.a.) die Frage der Wort-Ton-Kongruenz im Madrigal, Stichwort prima pratica / seconda pratica. Monteverdis 5. Madrigalbuch (1605) und das Manifest seines Bruders (1607) waren Meilenstein und Namensgeber, aber die intensive Debatte setzte schon weit früher ein. So schreibt Mazzone im Vorwort seines 1. Madrigalbuches (ich habe nur die englischen Übersetzungen zur Hand):
"The notes are the body of the music, while the text is the soul and, just as the soul, being nobler than the body, must be followed and imitated by it, so the notes must follow the text and imitate it, and the composer must pay due attention to it, expressing its sense with sad, gay, or austere music, as the text demands, and he must even sometimes disregard the rules." (Mazzone, 1569)
Viele Komponisten gingen in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bei der musikalischen Textausdeutung in so extremes Detail, dass dies wiederum Kritiker auf den Plan rief. Torquato Tasso hat geschimpft (La cavaletta, 1587), dass viele Madrigalisten, durche ihre Besessenheit für die musikalische Ausdeutung einzelner Wörter und Phrasen den Blick auf die Dichtung in ihrer Gesamtheit verlören. Vincenzo Galilei greift solche Madrigalismen auf polemische Weise in seinem "Dialogo della musica antica e della moderna" (1581) an. Es wird betont, dass die Beziehung zwischen Text und Musik nicht auf der Ebene einzelner Phrasen und Wörter stehen bleiben darf, sondern die Musik den Text (z.B. das Sonett) auch als Ganzes erfassen muss.
Auch wenn die musikalischen Mittel völlig verschieden sind, die grundlegenden Gedanken zur Wort-Ton-Kongruenz waren im Madrigalschaffen der Spätrenaissance also vielleicht gar nicht so verschieden zum Kunstlied des 19. Jahrhunderts... Ebenso weist Allan Atlas (Renaissance Music, S. 642) darauf hin, dass trotz aller Kontroversen Anhänger der prima und seconda pratica doch genau genommen – wenn auch wieder mit unterschiedlichen musikalischen Mitteln – unter demselben Banner gekämpft hätten: "Musik im Dienst des Wortes".
Nebenbei bemerkt, ein Spezialfall von "Musik im Dienst des Wortes" im Barockzeitalter ist natürlich das Rezitativ der neu entstandenen Oper, in einer späteren Definition von J. Scheibe (1745) "singende Rede, die in der nachdrücklichsten und genauesten Nachahmung der Rede des Menschen besteht"...
Komponisten haben Musikbausteine aus Zeitnot wiederverwendet - oder weil es damals noch keine Repertoirepflege gab. Eine Kantate wurde für einen bestimmten Anlaß komponiert und verschwand dann im Archiv. Da lag es nahe, ihr Material neu zu nutzen.
Zeitnot oder Schaffensökonomie oder einfach der Wunsch, einem gelungenen Satz durch Aufnahme in ein "gewichtigeres" Werk zum Fortleben zu verhelfen (parodiert wurde nach alter Tradition ausschließlich durch "Erhöhung", weltlich zu geistlich), spielte gewiss eine Rolle, wobei eine komplette Wiederverwendung mit anderem Text ja doch nur unter engen Voraussetzungen und nicht völlig entgegengesetztem Affekt gelingen konnte und kann.
Etwas anderes ist die von @mmueller52 beklagte vermeintliche "Austauschbarkeit", floskelhafte Kompositionsweise, die sich aber eben doch vorrangig dort findet, wo elegante, solide gemachte "Gebrauchsmusik" benötigt und geschrieben wurde – "ohne die Vorgabe, bis in alle Ewigkeit Maßstäbe setzen zu müssen", wie @Rheinkultur (und in anderen Worten @Gomez) weiter oben schön treffend geschrieben hat. Floskelhafte Musik nach "Schema F" findet sich in allen Epochen. Man muss also, wenn man Epochen miteinander vergleichen möchte, passende Vergleiche anstellen und immer auch das zeitliche Nebeneinander verschiedener Strömungen im Auge (bzw. Ohr) behalten und dann – epochenübergreifend – vor allem auf die Verschiebung der Gewichte zwischen diesen Strömungen achten: Im 19. Jahrhundert hatte die weltliche Instrumentalmusik mit dem Gattungen Sinfonie und mit dem auf sinfonische Dimensionen angewachsenen Konzert ein völlig anderes Gewicht als die weltliche Instrumentalmusik in Renaissance und Barock, in einer Zeit, zu der die (geistliche) Vokalmusik unangefochtenen Vorrang hatte.
Ein andersgearteter Aspekt der Wiederverwendung existierenden Materials (neben dem Aspekt der "Schaffensökonomie") ist aber, dass die Idee des Originalgenies eine Idee des 19. Jahrhunderts ist (wie @Gomez de Riquet ja auch schon schreibt), und über viele Jahrhunderte davor die Imitatio, also der kreative Umgang mit bereits existierendem Material nicht nur als Notbehelf, sondern auch und gerade als höchst ehrenvolles Unterfangen angegangen wurde und es keinesfalls als "leichter" angesehen wurde, ein gelungenes Werk unter Einbeziehung bereits existierenden Materials zu schreiben.
Im Generalbaßzeitalter ist Musik noch keine subjektive Gefühlskundgabe.
[...]
Du gehst von der Unbedingtheit einer Wort-Ton-Kongruenz aus, die es erst seit der Romantik gibt. Bei der ausgesprochen gefühlsbetonten Textausdeutung im romantischen Kunstlied, für Schumann oder Brahms, wäre es ein unvorstellbarer Akt der Frivolität gewesen, Gedichttexte - bei identischem Tonsatz - einfach auszutauschen.
Hier möchte ich nachdrücklich widersprechen, denn wiederum gilt, dass man das zeitliche Nebeneinander verschiedener, teils auch gegensätzlicher, Strömungen in Auge bzw. Ohr behalten muss:
Tatsächlich drehte sich eine der wohl ersten (?) neuzeitlichen musiktheoretischen und -praktischen Kontroversen in großer Heftigkeit um (u.a.) die Frage der Wort-Ton-Kongruenz im Madrigal, Stichwort prima pratica / seconda pratica. Monteverdis 5. Madrigalbuch (1605) und das Manifest seines Bruders (1607) waren Meilenstein und Namensgeber, aber die intensive Debatte setzte schon weit früher ein. So schreibt Mazzone im Vorwort seines 1. Madrigalbuches (ich habe nur die englischen Übersetzungen zur Hand):
"The notes are the body of the music, while the text is the soul and, just as the soul, being nobler than the body, must be followed and imitated by it, so the notes must follow the text and imitate it, and the composer must pay due attention to it, expressing its sense with sad, gay, or austere music, as the text demands, and he must even sometimes disregard the rules." (Mazzone, 1569)
Viele Komponisten gingen in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bei der musikalischen Textausdeutung in so extremes Detail, dass dies wiederum Kritiker auf den Plan rief. Torquato Tasso hat geschimpft (La cavaletta, 1587), dass viele Madrigalisten, durche ihre Besessenheit für die musikalische Ausdeutung einzelner Wörter und Phrasen den Blick auf die Dichtung in ihrer Gesamtheit verlören. Vincenzo Galilei greift solche Madrigalismen auf polemische Weise in seinem "Dialogo della musica antica e della moderna" (1581) an. Es wird betont, dass die Beziehung zwischen Text und Musik nicht auf der Ebene einzelner Phrasen und Wörter stehen bleiben darf, sondern die Musik den Text (z.B. das Sonett) auch als Ganzes erfassen muss.
Auch wenn die musikalischen Mittel völlig verschieden sind, die grundlegenden Gedanken zur Wort-Ton-Kongruenz waren im Madrigalschaffen der Spätrenaissance also vielleicht gar nicht so verschieden zum Kunstlied des 19. Jahrhunderts... Ebenso weist Allan Atlas (Renaissance Music, S. 642) darauf hin, dass trotz aller Kontroversen Anhänger der prima und seconda pratica doch genau genommen – wenn auch wieder mit unterschiedlichen musikalischen Mitteln – unter demselben Banner gekämpft hätten: "Musik im Dienst des Wortes".
Nebenbei bemerkt, ein Spezialfall von "Musik im Dienst des Wortes" im Barockzeitalter ist natürlich das Rezitativ der neu entstandenen Oper, in einer späteren Definition von J. Scheibe (1745) "singende Rede, die in der nachdrücklichsten und genauesten Nachahmung der Rede des Menschen besteht"...
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