Nur kurz: Hier wird gerne unterrichtet dergestalt: "Du musst alle Tonnamen wissen, wissen wie man sie greift (Blasinstrument) und auch noch wie lang sie sind. Jetzt spielen wir "Alle Jahre wieder."
Lieber Gefallener,
wo ist denn "hier"?
Hier im Forum zumindest wird immer wieder betont, wie wichtig es ist, dass Klavierspielen bedeutet, Hirn, Herz und (fast) alle Sinne zu gebrauchen.
Ich kann nur dann den Klang finden, wenn ich emotional beteiligt bin. Das aber heißt nicht, sich mit dem Körper zu bewegen (im Gegenteil ist ein stabiler Sitz wichtig) oder in Gefühlen zu schwelgen, so dass sie die Überhand gewinnen und das Hirn so von Endorphinen überflutet wird, dass Intellekt und Verstand die weiße Flagge schwingen.
Es gibt Untersuchungen vom Spiel berühmter Pianisten (ich glaube Brendel ...), bei denen gemessen wurde, wie emotional sie bei ihrem Spiel selbst sind. Fazit: niente. Es klang mordsmäßig agitato, aber der Pianist selbst war nicht in einem ähnlichen Erregungszustand. Das ist auch gut so, denn wäre man selbst gehetzt, würde man schnell die Übersicht verlieren.
Das heißt aber nicht, dass die eigenen Emotionen gar nicht beteiligt sind. Die Tiefe der Empfindung muss sich aber nicht im "Baden in Gefühlen" zeigen. Herz und Hirn und Sinne sind beteiligt!
Im Unterricht arbeite ich gern mit Schülern in Bildern und dem immer genaueren Finden von individuellen Wörtern und Ausdrücken. Es hilft oft, sich eine Geschichte oder bestimmte Situation vorzustellen, bei einem Nocturne z.B. einen See im Mondlicht, eine laue Sommernacht, eine wunderbare Ruhe und Stille sowie die entsprechende Stimmung.
Bilder sind sehr individuell und es ist Aufgabe von Lehrer und Schüler, die zu finden, die dem Schüler etwas sagen und ihn in die entsprechende Stimmung bringen. Maria Callas hat mal gesagt, dass sie sich vor dem ersten Ton in die Rolle verwandelt, die gleich die Arie singt. Eine bedrohliche Stimmung kann z.B. erzeugt werden, indem der eine sich die Szene aus "Herr der Ringe" vorstellt, in der in den Minen von Moria die Orks mit den Trommeln beginnen zu schlagen. Der andere kann damit nichts anfangen und stellt sich lieber die gespenstische Stille vor einem Vulkanausbruch vor. Es gibt tausende Möglichkeiten. Wir sprechen vom Charakter von Musik und die Charaktere und Stimmungen müssen erst mal wahrgenommen und präzisiert werden.
Wieder andere können mit Bildern nichts anfangen und machen es über Sprache. Wie soll das staccato an dieser Stelle klingen? Schon diese Frage löst einen Prozess aus. Hm, vielleicht lustig? O.k., wie lustig? Ist es frech mit sehr kurzen staccati? Oder soll es eher getupft klingen? Oder so, wie ein Flummi auf dem Boden abprallt - mit noch etwas Federung? Immer genauer versucht man, den Klangcharakter einzugrenzen, dazu ist ein Wissen um die Struktur und Stilistik des Stückes notwendig (Hirn), die Beteiligung des Ohrs und der Sensomotorik (Klangvorstellung, Realisierung und Überprüfung derselben) sowie der Emotionen (Herz), die individuell sind.
Es hilft aber nichts, verzweifelt in sich zu fühlen nach Gefühlen, während man nicht gleichzeitig mit der Arbeit am Klang beschäftigt ist! Das geht Hand in Hand.
Nach meiner Erinnerung geht Andreas Doerne in "Umfassend musizieren" mit Kindern auch gern so vor, dass er mit ihnen eine ganze Reihe Smilies erarbeitet, die er dann mit ihnen zusammen im Notentext platziert, so dass die Charakteränderungen sichtbar werden.
Meiner Meinung nach gibt es kein Problem mit der emotionalen Erfassung von Musik, wenn man einen guten Anfangsunterricht hatte. Jedes Kind spielt begeistert und musikalisch völlig richtig ihm bekannte Lieder nach Gehör. Sofortiges Spiel nach Noten legt hingegen den Fokus aufs Falsche und so klingt es dann auch. Hörschulung ist der erste und beste Weg, um nach und nach den eigenen Empfindungen auf die Spur zu kommen. Was empfindet man bei Dissonanzen, was bei Konsonanzen u.v.a.(s. auch der Beitrag von
@Alter Tastendrücker).
Liebe Grüße
chiarina