Zu Czernys Zeit wurden keine Pianisten im heutigen Sinne ausgebildet, sondern Musiker, die improvisieren, komponieren und eben auch Klavier spielen konnten. Eine Trennung von Pianistik und Theorie war völlig undenkbar.
Czernys Übungen sind deshlab keinesfalls als tote Technikübungen zu verstehen, sondern als Muster, die man sich aneignen kann - nicht, um sie nur zu spielen, sondern um damit zu spielen. Wenn man sich freie Fantasien aus dieser Zeit anschaut (die allerdings nur selten aufgeschrieben wurden, weil sie in der Regel als Eingänge zu Stücken improvisiert wurden), dann kann man sehen, dass diese aus genau solchen musikalischen Bausteinen zusammengesetzt sind, die Czerny exemplarisch notiert hat.
Etwas anderes sind die Technikübungen von Brahms, Liszt, Busoni, Cortot etc. Die sind weniger als musikalische Bausteine zu verstehen, sondern wirklich als Kompendien bestimmter Klaviertechniken. Vernünftig einsetzen lassen sie sich allerdings nicht, wenn man beim Üben nicht den konkreten musikalischen Sinn vor Augen hat und dementsprechend übt. Dazu muss man schon auf ziemlich hohem Niveau spielen, denn man kann Technik nicht "auf Vorrat" üben. Ohne musikalischen Hintergrund ist jedes Üben ein vollkommen sinnloses Unterfangen. Man wird ja auch kein guter Schauspieler, wenn man verbissen übt, einzelne Buchstaben möglichst schnell hintereinander aufzusagen. Hanon hat sowas propagiert - und leider glauben heute noch immer ein paar Leute daran, dass das funktionieren könnte. Tut es nicht!