Auch wenn es vorhersehbar war, finde ich es doch ein wenig schade, welche Richtung dieser Faden genommen hat.
Dann nochmal ein Versuch, ihn zu retten.
Der Begriff 'Qualität' ist mir nicht geheuer. Er hört sich zu sehr nach Reklame und nach Statistik an. Ich spreche lieber von künstlerischem Gelingen. Gibt es dafür Kriterien? Das mir am wichtigsten erscheinende Kriterium ist die Stimmigkeit, als Begriff schon weiter oben eingeführt. Stimmigkeit bedeutet: Die eingesetzten Mittel müssen in sinnvoller Relation zum Werkganzen stehen. Das betrifft Proportionen, Themenreichtum bzw. Motivökonomie, satztechnischen Aufwand, klangfarbliche Differenzierung ("Reichlich viele Noten, mein lieber Mozart" - "Majestät, grad so viele Noten als nötig sind"). Eine Miniatur satztechnisch zu überladen ist so unfreiwillig komisch wie ein Monumentalstück ohne ausreichende Substanz. Nichts gegen Polyphonie, aber Tarnkontrapunktik, die nur helfen soll, eine Füllstimme nicht sofort als solche zu erkennen, ist Unfug. Da ist mir ein ehrlich-homophones Stück lieber (--> Gymnopédie). "Es ist nicht schwer, zu komponieren. Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen" (Johannes Brahms).
Das alles hört sich vermutlich ganz plausibel an, verlagert aber die Diskussion nur wieder, weil auch die Angemessenheit der verwendeten Stilmittel, ihre Stimmigkeit, subjektiv unterschiedlich empfunden wird.
Die Statistik hilft überhaupt nicht weiter. Weder spricht große Beliebtheit für / noch die Unbeliebtheit (oder gar das Unbekanntsein) gegen ein Stück - und umgekehrt. Verkaufszahlen oder Dezibelmessungen (Applaus-Lautstärke) besagen nur etwas über die Verwertungsmechanismen der Kulturindustrie. Der Haß des Solitären auf die Massenkultur und die Verachtung, mit der ein Großteil der Menschen die sogenannte Hochkultur straft, haben auch nichts zu besagen; sie geben nur einen traurigen Blick auf Vorurteile und Ressentiments frei.
Zur pauschalisierenden Ablehnung von Komplexität: Natürlich ist Komplexität kein Qualitätsmerkmal. Aber ein gelungenes Stück komplexer Musik hat gegenüber einer gelungenen Schnulze (und eine gute Schnulze muß einfach sein) einen Vorteil: Es gibt im wahrsten Wortsinne mehr zu denken, und das macht es so interessant. Man kann sich einfach länger damit beschäftigen. Bei der Gelegenheit: Komplexität ist nicht gleichbedeutend mit gigantischer Überfülle. Weberns Klaviervariationen op.27 sind notenarm, so dürr, daß viele Pianisten nichts damit zu tun haben wollen. Aber sie sind strukturell ungeheuer reich; ihre Komplexität ist hinter Pausen und ein paar Notentupfern versteckt.
Zum Stichwort 'Denken': Alle gute Musik ist etwas Gedachtes, in sich sinnvoll Strukturiertes, und ein Musikliebhaber kann mitdenken, die musikalischen Gedanken aufnehmen, sich davon beschenken lassen, sogar darüber hinausdenken, und das ist viel mehr als schlichter 'Musikgenuß'.
Zum Thema 'Noten': Wie so oft vermischt der Threadersteller Halb- mit Unwahrheiten. Natürlich will Musik erklingen und gehört werden, was aber nicht bedeutet, daß der reine Notentext defizitär wäre. Von aleatorischen Spielereien abgesehen, ist der Notentext ein vollkommener, in sich sinnvoller Text, den man erfassen, verstehen und sogar lieben kann. Zuallerletzt: Künstlerisches Gelingen braucht keine applaudierende Öffentlichkeit. War die Matthäuspassion zwischen ihrer Erstaufführung und ihrer Wiederentdeckung durch FMB schlechtere Musik - weil niemand sie kannte? Haben Kafkas Romane nichts getaugt - vor ihrer Veröffentlichung durch Max Brod? Ein gelungenes Kunstwerk ist nicht an die Akklamation durch ein Publikum gebunden; manchmal strebt es sie auch gar nicht an, wie die für unseren kurzsichtigen Blick unerreichbaren Details in gotischen Kirchen, die nur für Gottes Auge gedacht sind.