Lieber Rolf,
naja, das ist es ja gerade, was mir das Ganze so schwer macht. Wann verurteile ich SELBST jemanden? (Es geht hier nur um meine eigene Haltung, ich sage nicht, dass sie jemand teilen soll, der nicht eine ähnliche, prägende Zeit im Hesse-Haus verbracht hat.) Ich kann jeden von Euch, der ihn nicht kennen gelernt hat, gut verstehen, wenn er weiteres Bemühen um eine differenzierte Beurteilung von Wei Tsin-Fu oder Jonathan Goenawan hinsichtlich der Gerichtsurteile als überflüssig einstuft. Würde ich auch. Wenn mir einer eine Geschichte von einem, sagen wir, charismatischen Sportlehrer erzählt, der seine Stellung ausnutzt, seine minderjährigen Schüler sexuell zu missbrauchen, dann würde ich wahrscheinlich auch reagieren mit: "Oh je, alles Schweine, und die katholische Kirche ja erst recht, etc."
Schwer wird's erst, wenn Du diese Person dann eben als mitnichten nur negativ erlebt hast, besser gesagt: sehr positiv. Was machst du dann? Klar, du kannst das nicht wegleugnen oder romantisch-verklärt "rachmaninoffisieren" (ach, da ist mir ja ein hübsches Wort eingefallen
), aber dass es dann nicht ganz leicht wird mit der ganzen Beurteilung, das kann man (vielleicht) nachvollziehen.
Ich weiß ja auch (ja, ich habe den Thread fast vollständig gelesen), dass Du ihn kennst, und von der (einzigen?) ersten Begegnung überhaupt nicht angetan warst. Ich kenne Dich nicht, aber ich gehe davon aus, dass Du ein Konzertpianist auf sehr hohem Level bist und damals auch schon warst. Ich hingegen war ein junger, ehrgeiziger Schüler auf mittelmäßigem Niveau. Da war Wei Tsin-Fu ein "Volltreffer".
Ich weiß nicht, ob Euch das hilft, meine Situation zu verstehen, aber es stelle sich doch einfach mal ein jeder von Euch jeweils denjenigen Klavierlehrer (oder -in) vor, der Euch jeweils am weitesten gebracht hat oder am meisten bedeutet hat. Und jetzt stellt Euch vor, 13 Jahre später erfahrt Ihr von solchen Dingen wie sexuellem Missbrauch. Was macht Ihr? Wie urteilt Ihr? Klar: Gefängnis muss sein, Strafe muss sein. Sagt mir meine linke Gehirnhälfte. Meine rechte Gehirnhälfte hat viel schwerer zu kauen an dem Ganzen. Unterm Strich natürlich finde ich das alles richtig, Strafe muss sein, und Kindesmissbrauch ist eines der schlimmsten Verbrechen, und ich würde hier nicht so schreiben, sicher nicht ansatzweise, wenn ich ein Opfer wäre.
Vielleicht weise ich auch nochmals darauf hin, dass das ganze Ding mit Brain Academy und Professor usw. weit nach meiner Zeit aufkam, vielleicht auch als psychologisch zumindest ansatzweise nachvollziehbare Reaktion auf die Sache mit dem Konzerthaus in Tübingen.
Ich möchte mich hier auch nicht als blinder Jünger gerieren, das habe ich schon einmal betont. Ich selbst hatte auch Differenzen mit Wei Tsin-Fu und distanziere mich von einigem an Inhalten und Ideen der "Brain" Akademien. Und natürlich entschieden gegen sexuellen Missbrauch. Ich habe auch keinerlei Kontakt mehr zu ihm (das letzte Mal habe ich ihn vor vier Jahren kurz getroffen).
Lassen wir es bei folgender persönlicher Aussage: Ich habe ihm extrem viel zu verdanken. Das wird sich nicht ändern.
Und lassen wir es bei folgender allgemeiner Aussage: Er ist ein Lehrer, der seine Schüler in sehr schneller Zeit zu sehr guten Leistungen führen kann. Dies kann man zwar nicht unbedingt mit Youtube-Videos beweisen, aber Achtung: schlechte Youtube-Videos beweisen auch nicht erschöpfend das Gegenteil.
Und wir vergessen dabei keinesfalls: Er hat einige seiner Schüler sexuell missbraucht.
Ich glaube, man hätte immer gerne alles einfach. Das ist gut, das ist verdammenswert. Das ist wertvoll, das ist Ramsch. Das ist wahr, das ist falsch. Das ist "musikalisch", das ist nicht "musikalisch".
Bei Wei Tsin-Fus Verhaltem gegenüber seinen schutzbefohlenen Schülern ist die Entscheidung klar: verdammenswert.
Er disqualifiziert sich damit definitiv als Lehrer, der zu (wehrlosen) Schülern Kontakt haben sollte. Aber er disqualifiziert sich nicht als Lehrer im Sinne einer Person, die aus ihren Schülern auch aus ihrer eigenen Sicht heraus unerwartete Leistungen herausholt, und schon gar nicht im Nachhinein.