Guten Morgen allerseits,
gerne will ich versuchen darzustellen, welche "Kniffe" und Ratschläge von Wei Tsin-Fu mich am meisten begeistert haben bzw. am wirksamsten waren (bei mir). Vorausschicken möchte ich, dass es zwei Kategorien von Übungen gab, nämlich einfach die, die er mir während des Einzelunterrichts vorgestellt hat und die, die wir in der Studentengruppe gemeinsam besprochen und ausprobiert haben. Nachvollziehbarerweise waren die Einzelunterricht-Tipps für mich subjektiv die wirkungsvolleren. Dies liegt nun schon über zehn Jahre zurück, aber vieles ist mir dennoch noch sehr präsent. Natürlich kann ich Euch die Ideen nur mit subjektiver Gewichtung beschreiben, das heißt, dass Euch vielleicht einiges trivial oder als im Kanon eines guten Klavierunterrichts ohnehin vorauszusetzend erscheint. Subjektiv war die Wirkung für mich aber immer enorm, vor allem mit der Lust verbunden, es unbedingt sofort weiter ausprobieren zu müssen. Vielleicht ist es auch so: dass Wei Tsin-Fu eine für mich bisher völlig unbekannte und damit faszinierende Art und Weise hatte, sofort zu verstehen, wie meine "Grenzfläche" aussah, sprich die Gesamtheit der Punkte, an denen ich "feststeckte" und nicht weiterkam, und wo eben nicht mehr galt "Übung macht den Meister", sondern wo ich mich (für mich) damit begnügen musste (und dies partiell schon gemacht hatte), dass ich hier nur mit "absurd viel Übung" weiterkäme bzw. gar nicht. Klar ist: befindet man sich in solche einem Zustand, dann eröffnen sich einem "Universen", wenn ein Lehrer auftaucht, der an jedem (!) dieser "Punkte, bei denen es bei mir kein Fortkommen mehr gibt" einen Kniff, eine Übung, einen Ratschlag weiß, der nicht nur klug klingt (das hätte mich nicht beeindruckt), sondern dessen Ad-Hoc-im-Unterricht-Durchführung sofortigen und spürbaren Erfolg bringt (und das, ohne dass ich die Übung selbst länger geübt habe).
Bevor ich jetzt endlich mal in medias res eintauche, kurz noch dies eine vorweg: Es war meist so, dass ich mit einem Stück zu ihm kam (z. B. Chopin-Etüde a-moll Opus 25 Nr. 11), an denen ich einfach nicht recht weiterkam. Sagen wir z.B., ich verkrampfte bei den schnellen Akkordbrechungs-Arpeggien in der rechten Hand (bitte seht mir etwaige Fehler in den Nomenklaturen nach) und war zu sehr mit Notenlesen beschäftigt, so dass ich mich oft verhaspelte. Der Übergang von langsamen Üben hin zu schnelleren Tempi wollte einfach nicht recht klappen. Im Langsamen, einzeltonweise, war alles wunderbar. Bisher dahin war meine - zugegeben damals vielleicht auch recht naive - Vorgehensweise diejenige, dass ich das Metronom allmählich schneller einstellte, bis das Zieltempo erreicht war. Das ist aber natürlich falsch. Warum? Weil ein bewusstes, sinnvolles gruppenhaftes Internalisieren/Automatisieren unmöglich gemacht wird und das Gehirn somit unnötig viel Denkaufwand benötigt, was dann, wenn das Tempo zu schnell wird, zu Fehlern führt, und zwar zu unkontrollierten Fehlern. Wei Tsin-Fu hat das damals anhand des Zusammenspiels Bewegungsapparat-Gehirn dargestellt: Man sollte die Wörter "vier zwei drei eins" langsam und laut und ohne Pause wiederholt sagen und dabei allmählich schneller werden. Irgendwann erreichte man den Punkt, an dem eine weitere Erhöhung des Tempos zu Verhaspelungen oder Verkrampfungen in der Zunge führte. Dann bat er uns, die Wortgruppe "Sechzehn, siebzehn" ebenso laut und wiederholt zu sprechen. Die Temposteigerung gelang hier schon deutlich besser. Zu guter Letzt versuchten wir dasselbe mit dem Wort "zweiundzwanzig". Temposteigerung nochmals viel besser. Die Idee ist klar: obwohl jedesmal dieselbe Anzahl Silben und sicherlich ungefähr dieselbe Komplexität an Sprechmotorik involviert sind, nutzt mir hierbei der verschiedene Grad der Internalisierung/Automatisierung, um den Denkaufwand und damit die Fehleranfälligkeit zu reduzieren.
So. Und wie setzte er dies nun an der A-Moll-Etude um? Ich hatte durch das Temposteigern "Ton für Ton" geübt und nicht gruppenweise. Also simpel: Gliedere den Notentext in kleine Gruppen und übe diese getrennt. "Wie jetzt, das war's?"
Ich habe bei den Akkordbrechungen z.B. immer "handweise" Grüppchen gebildet, sprich Daumenuntersetzer und Handsprünge bildeten die Zäsuren. Die einzelnen Gruppen habe ich dann separat geübt und automatisiert. Dann kam der Übergang zwischen den Gruppen. Die Gruppen wurden dabei als "Block" gegriffen (alle Töne auf einmal) und die Sprünge und/oder Daumenuntersetzer wurden geübt. Dann Zwei-Grüppchen-weise: Zwei Grüppchen samt ihrem Übergang wurden gespielt, dann Vierergruppen etwa und schließlich das gesamte Arpeggio. Dabei war ihm eine Sache ganz wichtig: IMMER vorausdenken, nie den Bewegungsapparat einfach loslaufen lassen. Was geschrieben auch nach Trivialität klingt, war bei mir bei weitem nicht "hart" in den Übungsalltag eingebaut, weswegen ich hier tatsächlich auch Hilfe brauchte. Seine Idee war: Höre und fühle und denke voraus, was kommt. Ich habe meinen Schülern immer gesagt (wenn sie z.B. einen Sprung geübt haben): NIE einfach so drauf los üben. Sondern: halte (wo auch immer du grade bist), den letzten Ton oder Akkord gedrückt und entspanne dich (leicht "rührendes", geschmeidiges Handgelenk). Dann konzentriere dich darauf, wie sich der Sprung anfühlt, wie es klingt, wenn du den Zielakkord greifst, etc. Dann springe. Entschieden und schnell. Und danach halte wieder an und entspanne dich. Falls falsch, spiele NICHT sofort die Korrektur. Sondern STELLE sie dir VOR. Wie es richtig klingt und es sich richtig anfühlt. Das dann wiederholen.
So bin ich dann die ganze Etüde durchgegangen: Phrasen mit vielen Takten zerfallen in Gruppen, die ihrerseits wieder in weitere Untergruppen zerfielen, deren Automatisierungsgrad und Abrufbarkeit hinsichtlich "wie FÜHLT und HÖRT es sich an?" immer stärker zunahmen (entspricht dem "sechzehn" und "siebzehn" im obigen Beispiel). Schließlich war das gesamthafte Spielen kein Ergebnis eines unreflektierten "Ich-mache-mein-Metronom-immer-schneller-ohne-Hierarchien-zu-bilden", sondern eines hierarchischen Internalisierungsprozesses à la "sechzehn siebzehn".
Und das hat dann einfach wahnsinnig gut funktioniert. Und machte mich damals "heiß" drauf, es überall sonst auch so auszuprobieren. Wie gesagt, nochmal: Grüppchenweise zu üben und zu internalisieren ist nicht der heilige Gral und schon gar nichts "Neues". Es ist nur ein Aspekt des "Tippcocktails", der bei mir eben recht schnell und wirksam gefruchtet hat, und hinsichtlich dessen ich klare Defizite hatte. Und Wei Tsin-Fu hat mir dies eben sehr gut und sehr eindrucksvoll, gewürzt mit noch vielen weiteren Ideen, Metaphern und Tricks, für die ich jetzt noch etwas tiefer in der Erinnerung grabne müsste (und dies gerne tue, wenn es Euch interessiert) illustriert.
Zum Thema Vom-Blatt-Spiel: Hier ging er ähnlich vor (Zielidee: zu erreichen, dass an den richtigen Stellen reduziert wird (also das Skelett des Stückes herausschälen können und beibehalten. "Das Ohrläpppchen darf fehlen, das Auge nicht."). Stück nehmen und einen Takt ansehen. Tonart klar? Tonraum? Vorzeichen? Welche Harmonien sind im Spiel? (Muss dazu sagen, ich war damals ein guter Vom-Blatt-Spieler, weswegen ich nicht weiß, wie er mit den "Basics" begann. Ich weiß nur, dass ich selbst häufig das "Vorauslesen" geübt habe (also mit den Augen schon immer sagen wir einen Takt voraus sein, so dass der Prozess des "Lesen - das Wesentliche erkennen - in "wie fühlt es sich zu spielen an?"-Übersetzen und schließlich Spielen" trainiert wird. Vielleicht war das sogar das Wichtigste für mich: zu realisieren, dass man bei allem, was man tut, sich immer erst vorstellen muss, wie es sich anfühlt, das zu tun, und es dann zu tun. Damit ist man mit Hirn und Augen und Vorstellungsvermögen immer der aktuellen Handlung voraus. Fehler entstehen dann immer nur aus rein motorischen Unzulänglichkeiten, aber nie, weil falsch "gedacht" wird. Das hat bei mir unheimlich gut funktioniert. Während ich hier tippe funktioniert das z.B. auch: Ich habe 10-Finger-Schreiben nie explizit gelernt, aber ich nutze die Wei Tsin-Fu-Ideen: Stelle Dir ein Wort vor, wie sich dessen Tipp-Vorgang anfühlt, und erst dann tippe es. Treffsicherheit und Tempo erhöhen sich dabei enorm. Auch verbessert sich dabei die Effizienz der Anatomie: die Hände und Arme unterstützen die Finger in der "richtigen Weise" (z.B. durch leichtes Kippen der Handrücken in die richtige Richtung, durch Impulse aus dem Arm etc.). (Ich spreche immer noch exemplarisch vom Tippen an einer Computertastatur. Man kann dieselbe Idee aber auch beim Sprechen etc. anwenden. Ich glaube, wir sind hier bei dem Thema, was gemeinhin als "Kopf-Kino-Techniken" bekannt ist, oder auch "mentales Üben". Wahrscheinlich auch nichts Neues.