@Louis Jänig
Wenn du einen musikalischen Gedanken hast, der dich fesselt, dann halte ihn fest ... nicht nur für ein paar Momente oder eine Session lang.
Halte den Gedanken eine Weile fest, und nutze ihn immer wieder als ausgangspunkt für deine Improvisationen, über Wochen, Monate oder sogar Jahre hinweg.
Das mag sich anfangs nicht unbedingt anfühlen, wie intuitives Musizieren, aber man kann dabei sehr viel lernen.
Ich sage dir mit einigen Jahrzehnten Erfahrung, dass sich dabei fast automatisch Struktur entwickelt ... nichtmal, weil du lernst,. wie man das produziert (das passiert dabei aber auch), sondern einfach, weil du jedes mal, wenn du öffentlich Musik hörst, auch eine solche Struktur hörst.
Dein Unterbewusstsein merkt sich hin und wieder mal was ... und das Ding hat die Angewohnheit, die aufgeschnappten Dinge immer mal wieder einfach so rauszulassen. Mit genügend Gewöhnung und technischen Fähigkeiten (Übung) an den Tasten, kann man das nach einer Weile dann auch einfach rauslassen ... aber manchmal klingts dann eben trotzdem doof (auch damit sollte man immer rechnen).
Du hast natürlich Recht, Musiktraditionen kanalisieren zum Teil auch Kreativität ... aber das ganze Kreist seit Jahrhunderten im Spannungsfeld zwischen "profanem Gefallen" und "virtuosem Umgang mit den Klanglichen Möglichkeiten" (das kann auch mal zu profanem Missfallen führen, wird aber von speziell Gebildetenm auch immer anerkannt).
Sich mit dieser Tradition auseinander zu setzen, hilft zu gefallen ... aber das hat Expresionisten (und als einen solchen erlebe ich dich) noch nie wirklich gestört, solange sie von ihrer Kunst nicht gerade hauptberuflich leben wollten.
Dieses Wissen muss auch nicht unbedingt dabei stören, eigene Wege zu musikalischem Ausdruck zu finden.
Aber wenn ich mir meine Arbeitsweise (beim Komponieren) so anschaue, dann arbeite ich weniger mit Kadenzen, als mit ihrer Vermeidung. Ich habe mich also nicht mit dem "Wie macht man das" beschäftigt, um Bach, Beethoven oder Mozart imitieren zu können (das ist nur eine Nebenwirkung), sondern um ganz gezielt NICHT nach bekannten Komponisten zu klingen, sondern nach "Ich".
Aber ich bin mir eben auch nicht zu Schade, zwischendurch mal zu klingen, wie andere ... wenn ich in einem Stück an einer Stelle ein bisschen Yiruma für passend halte, dann gibts eben mal was in der Art. Da gehts dann nicht darum, zu gefallen, sondern um den meiner Meinung nach "passenden muskalischen Ausdruck zur gegebenen Zeit".
Es lohnt, sich mit den Traditionen zu beschäftigen ... sogar, wenn man sie dann eigentlich eher umgehen will.
Bei der Kommunikation mit Professionellen musst du auch immer daran denken, dass die in etwas viel Energie gesteckt haben, was du meinst einfach so erreichen zu können. Dieses etwas ist Teil des Selbstbildes und daher bedeutsam für die Identität, des Betreffenden. Was du hier machst, wirkt da fast wie ein Angriff.
Da ist ganz ganz viel Diplomatie angesagt ... je öfter die Leute in ihrem Selbstbild bestätigt wurden, desto mehr Diplomatie brauchen die, wenn man die Übernahme durch die Amygdala verhindern will (das berühmte Mauern).