Hallo Guendola,
schade, daß Deine Überlegungen im Privat-Hickhack drohen unterzugehen. Denn ich finde sie höchst bedenkenswert.
Deine Auffassung von Interpretation ist sehr puristisch. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wa diese Auffassung en vogue - als Reaktion auf den romantischen Überschwang und Subjektivimus. Arthur Schnabel z.B. spielte in jener Zeit streng nach den "Buchstaben des Gesetzes". Offensichtliche Schreibfehler, vergessene Vorzeichen wurden gnadenlos als vom Komponisten gewollt gedeutet. Das ist die Extremposition (die Schnabel später zum Glück wieder abgemildert hat).
In diesem Zusammenhang fällt mir ein Interview mit
Friedrich Höricke ein. Hier ein Ausschnitt:
Werktreue heißt nicht, daß man an irgendeinem Notentext klebt, wenn er augenscheinlich nicht funktioniert. Man muß vielmehr gucken: Was hat der Komponist gewollt und wie kann man das am besten umsetzen?
Ich bin der Meinung, daß wir uns durch die Verwissenschaftlichung der Musik, haben wir uns die Sympathie des Publikums verscherzt haben. Als wir früher die großen Feuerköpfe waren, von Bach über Beethoven, bis zu Liszt und Rachmaninoff, die aus dem Vollen geschöpft haben und sich von niemanden reinreden ließen, haben uns die Leute zu Füßen gelegen. Und seitdem wir dies nicht mehr gemacht haben, sind sie uns weggelaufen.
[...]
Man muß seine ganze Persönlichkeit wirken lassen, da darf man nicht sagen, das "darf man" oder "das darf man nicht" und sich ständig in Korsettstangen zwängen lassen. Und man darf auch keine Angst vor der Kritik haben. Die können doch sagen, was sie wollen, das ist doch egal. Wichtig ist doch, daß bei den Leuten im Publikum irgend etwas ankommt. Das Problem ist die Sinnenfeindlichkeit vieler Pianisten, es ist ein bürokratischer Stil.
Wem es darum geht, darzustellen, wie zu Bachs Zeiten musiziert wurde, sollte sich eingentlich nicht an einen modernen Flügel setzen.
In der Tat ist derjenige am Cembalo besser aufgehoben. Aber bitte nicht in der bequemen Kleidung des 21. Jahrhunderts, sondern in jenen kiloschweren Wämsen und Westen, mit denen man sich damals zu kleiden pflegte. Mit Puder, Perücke und ein paar Flohstichen am Allerwertesten. Die Beleuchtung wird durch Talglichter ersetzt, die Heizung aus ökologisch-aufführungspraktischen Erwägungen abgestellt. Auch die Abendgagen werden an das Durchschnittsgehalt der Musiker im 18. Jahrhundert angepaßt! Künstlersozialkasse, GEMA und GVL werden ersatzlos gestrichen. Das Publikum wird einem entsprechenden Procedere unterworfen. Erst dann können wir den Wert der Goldberg-Variationen oder der Bachschen Orchestersuiten in ihrer Größe ermessen. :D
Für mich beinhaltet eine ideale Interpretation praktisch überhaupt keinen Geschmack. Stattdessen sollte sie das Ergebnis einer intensiven verstehenden Auseinandersetzung mit der Musik, ihrem Komponisten und dem dazugehörenden Zeitgeist sein. Das ist natürlich eine rein wissenschaftliche Herangehensweise, nach der im Prinzip jede Interpretation, die auf dem selben Wissensstand basiert, identisch klingen müßte.
Die Cembalistin Wanda Landowska äußerte sich einmal sehr abfällig über das Bachspiel eines Kollegen und beendete das Gespräch apodiktisch mit den Worten: "Ich spiele Bach auf seine Weise!"
Mit dem Anspruch einer authentischen Wiedergabe sind schon viele angetreten - und wie unterschiedlich sind die Ergebnisse. Was als "authentisch" angesehen wird, hat viel mit dem Zeitgeist zu tun. Wer redet denn heute noch (ohne rot zu werden) von "Terrassendynamik", ein Begriff, der ein den 50er und 60er Jahren groß in Mode war. Der Geschmack (nenne ihn Zeitgeist oder Intuition) läßt sich auch aus der idealen Interpretation nicht herausdividieren.
Interessant auch zu hören, wie sehr Interpreten im Laufe ihres Wirkens dem Wandel des Zeitgeistes ausgesetzt sind. Wie nüchtern klingt Gustav Leonhard Anfang der 60er Jahre, wie besselt in seinen Aufnahmen aus den 90 Jahren.
Wem es aber darum geht, den Geist dieser Musik zu vermitteln, dem stehen eigentlich alle Mittel und Wege offen, allerdings muß er selbst diese Musik dann auch verstanden haben, was nicht unbedingt durch reines Wissen erreichbar ist.
Mit dem "Geist der Musik" ist es so eine Sache. Er ist flüchtig wie Weingeist. Und doch glaubt jeder, den Geist der Musik (wohlmöglich als einziger) erfaßt zu haben. (Es gibt allerdings ernstzunehmende Musiker, die z.B. Glenn Gould jedes Verständnis für die Musik Bachs absprechen.)
Geschmack kommt meiner Meinung nach erst beim Hören ins Spiel. Der Zuhörer entscheidet ja im allgemeinen nicht danach, wie "korrekt" etwas gespielt wurde, sondern wie gut es ihm gefällt. Und gefallen tut einem meistens das, was einem irgendwie bekannt vorkommt.
Das wäre so ähnlich, als ob der Koch keinen Geschmack braucht, sondern nur der Gourmet. :confused:
Worüber ich mir noch unschlüssig bin: ob "Geschmack" und "Gefallen" zwangsläufig miteinander korrespondieren müssen?