Um überhaupt interpretieren zu können, benötigt der hoffnungsvolle Interpretationswillige in jedem Fall handwerkliche Fähigkeiten, die die Realisierung, das Verstehen, die Analyse und tiefere Durchdringung überhaupt erst möglich machen.
Jemand, der das Werk gar nicht spielen kann, kann es erst recht nicht interpretieren. Jemand, der keine Kenntnisse hat, um die Strukturen, Entwicklungen und musikalischen Elemente zu verstehen, kann das Werk nicht interpretieren.
Ich zitiere aus einer
Quelle, die sich auf die Interpretation von Texten bezieht:
"Unter »Interpretation« versteht man die Erklärung oder Auslegung eines Textes. Dabei bezieht sich der Begriff auf zweierlei: auf den Vorgang des Analysierens, des Deutens und Verstehens (das Interpretieren) sowie auf das Ergebnis dieses Verstehensprozesses (die Interpretation, zum Beispiel in Form eines Schulaufsatzes).
Interpretiert werden können: Kunstwerke und Reden, theologische, historische und juristische Quellen sowie alle literarischen Texte, also Gedichte, Theaterstücke und Romane. Literatur muss interpretiert werden, weil gute Literatur selten ganz eindeutig ist; meist bietet sie mehrere Deutungen und öffnet so einen Spielraum für unterschiedliche Möglichkeiten des Verstehens.
Im Gegensatz zum naiven Verstehen macht Interpretation durch bewusste Reflexion, durch verständliche Argumentation und nachvollziehbare Belege das Urteil für den Leser nachvollziehbar. Selbst wenn sie nicht immer eindeutig ist – so können zwei Interpreten ein Werk unterschiedlich interpretieren –, ist Interpretation aber niemals beliebig!"
Wenn ich nicht weiß, was Phrasierung bedeutet, kann ich nicht die vielen Möglichkeiten der Gestaltung erkennen, die eine Phrase bietet. Ich kann auch leider nicht die Möglichkeiten erkennen, die diese Phrase NICHT bietet. Wie soll ich da interpretieren können?
Das Zitat ist also meiner Meinung sehr gut auch auf die Interpretation von Musik anwendbar. Der Erfolg großer Pianisten beruht nicht auf ihrer großen Virtuosität (die haben andere auch), sondern auf ihrer Interpretation und Durchdringung eines Werkes, die so zwingend ist, dass wir atemlos lauschen. Sie hören viel mehr, wissen viel mehr, verstehen viel mehr als andere, können das alles klanglich umsetzen und das spürt und hört das Publikum, auch wenn es keine Einzelheiten benennen kann.
Liebe Grüße
chiarina
P.S.: Was den von
@Dreiklang immer wieder verwendeten Begriff Musikalität angeht, so kann das einerseits eine gewisse musikalische Begabung meinen. Diese Begabung aber muss ausgebildet werden. Begabte Menschen spielen z.B. die unterschiedliche Spannung von unterschiedlichen Intervallen oft intuitiv richtig. Es wird aber noch ein ganz anderer Schuh draus, wenn sie diese Spannung BEWUSST reflektieren, wahrnehmen und benennen können, indem sie Intervalle singen, hören, erkennen u.v.a.m. Dann verbindet sich Intuition mit Reflexion und der Ausdruck sowie das Verstehen und letztlich Deuten wird eine ganz andere Qualität haben.
Umgekehrt sieht man daran, dass Begabung, um gut spielen zu können und in der Lage zu sein, tatsächlich "interpretieren" zu können, zweitrangig ist und so ziemlich jeder lernen kann, Intervalle zu hören etc. und seine musikalischen Fähigkeiten, also seine Musikalität auszubauen, so dass die Voraussetzungen für eine Interpretation geschaffen sind! Dazu gehören eine intensive Schulung des Gehörs (daher auch die von mick empfohlene Überprüfung durch Singen) im Verbund mit Kenntnissen in Harmonielehre, Formenlehre, Tonsatz etc. und natürlich die Fähigkeiten, das alles technisch und klanglich umzusetzen. Da sieht man auch schön, dass man Technik vom Klangwillen, von musikalischen Fähigkeiten nicht trennen kann.