Lieber Rolf,
es mir sehr sympathisch, daß Du Glenn Gould verteidigst - ich schätze ihn ja
auch,
was mich aber nicht zur blinden Anerkennung seiner Vorgehensweise(n) verleitet.
Bei Gould lassen sich die Stärken und die Schwächen schnell benennen -
vorallem auch ihre gemeinsame Ursache: Gould kommt im Grunde von der Orgel her -
oder zumindest von einem haltepedal-freien Tasteninstrument. Nicht daß er das rechte Pedal,
um dessen Benenung hier momentan ein Glaubenskrieg geführt wird, verschmäht hätte.
Aber sein Ideal von guten und deshalb in einem schöpferischen Akt
liebevoll zu interpretierenden Werken bestand größtenteils aus polyphoner Musik -
von linearen Stimmverläufen und realer Mehrstimmigkeit geprägte Musik.
Er war meines Wissens der erste Pianist, der die Musik der englischen Virginalisten
ernstgenommen und Orlando Gibbons und William Byrd eingespielt hat.
Über seine Beschäftigung mit Bach und mit der Klaviermusik der Wiener Schule (Schönberg,
Webern, Berg und Krenek) brauchen wir gar nicht zu reden. Interessant wird es bei Musik,
die über längere Strecken oder sogar komplett homophon gesetzt ist,
mit Spielfiguren arbeitet, der linken Hand Alberti- oder Murky-Bässe zumutet etc.
Dergleichen angemessen zu spielen hatte er offenbar keine Lust.
Was ihn geritten hat, solche Musik trotzdem einzuspielen, ist mir ein Rätsel.
Um sich die Sache irgendwie interessant zu machen, hat er irrwitzige Tempi gewählt
(ein Kritiker-Bonmot nach Erscheinen des Mozart-LP-Albums: "Mozart durch T.K.O. besiegt!")
und sich gerne die Freiheiten eines Co-Komponisten erlaubt wie in Mozarts A-Dur-Variationen.
Schwierigkeiten hatte er auch mit Musik, die speziell den Klangmöglichkeiten des Konzertflügels
vertraut. Um Chopin, Liszt, Debussy und Ravel hat er einen relativ großen Bogen gemacht -
und dabei die polyphone Struktur z.B. in den Chopin-Préludes völlig übersehen.
Aber wenigstens bei Skrjabin hatte er einen wachen Blick und dessen dritte und fünfte Sonate
(ohne alle Mätzchen!) wunderschön gespielt. Davon genauso abgesehen wie von den beiden
Einspielungen der Goldberg-Variationen: Am ergreifendsten ist für mich seine Interpretation
der späten Brahms-Intermezzi.
Sehr interessant ist die Frage, ob die Paraphrasen- und Reminiszenzenflut
des 19. Jh. in irgendeiner Weise Wurzeln in der barocken Praxis hat,
und sei es auch als quasi nachgelieferte Rechtfertigung -
andererseits ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass diese Flut ihre Herkunft
aus der Praxis der öffentlichen Improvisation (frei fantasieren, über Themen fantasieren) hat.
Was die Paraphrasenflut betrifft, so hast Du sicher recht - was die Transkriptionsflut betrifft,
die ist generell Bestandteil eines Lebens vor der Erfindung der technischen Reproduzierbarkeit.
Man konnte sich nur die Musik vergegenwärtigen und hören, die real gespielt wurde.
In alten Zeiten - bevor der Notendruck ein kommerziell erfolgreiches Geschäft wurde -
war die handschriftliche Kopie dazu ein gängiges Hilfsmittel. Bei der Verwandlung
von Vokal- in Instrumentalmusik, bei der Umarbeitung vom einen zum anderen Klangkörper
wurde dem Notentext dabei nicht nur unfreiwillig Gewalt angetan. Das berühmteste Beispiel
sind Bachs Orgelconcerti nach Vivaldi, Marcello et al.
Womit sich der Kreis schließt - zurück zu den "Dreiklangs"-Dimensionen:
Erst macht er einem Appetit, und dann verweigert er die Nahrungszufuhr...
Herzliche Grüße!
Gomez