Durch unsere gottgewollte Freiheit werden wir im weltlichen Leben immer auch Entscheidungen treffen, die uns von Gott zumindest zeitweilig mehr oder minder entfernen. Das also ist der Preis der Freiheit, den jede Generation, ja jeder Mensch zu zahlen hat. Das ist die Erbsünde.
Das mag als Arbeitsdefinition von »Sünde« hingehen, und steht ja so ähnlich letztlich schon bei Augustin (Sünde als
aversio a deo und
conversio ad creaturas), nur dass er zusätzlich in platonischer Tradition Sünde ontologisch als
privatio boni, letztlich als Entfernung vom höchsten Guten definiert, und Luther, ex-Augustiner und katholisch ins Mark wie fast immer, hat ihm das mehr oder weniger nachgeschrieben. Das ist aber keine Definition von Erbsünde, denn sie erklärt in keiner Weise, was an dieser Sündhaftigkeit ererbt sein sollte.
Es wird dir außerdem nicht entgangen sein, dass deine Definition von Erbsünde sich von der bei dir weiter unten von Benedikt XVI pp gegebenen gravierend unterscheidet., die deshalb schlecht zur Stützung deiner Auffassung herangezogen werden kann.
Was diese Predigtauszüge betrifft, so habe ich von dem Theologen Joseph Ratzinger vieles Brillante und Bedenkenswerte gelesen, aber mit denen hier habe ich ernsthafte Schwierigkeiten:
Der Mensch hat sein Selbst nicht nur in sich, sondern auch außer sich: Er lebt in denen, die er liebt
»Hier stock ich schon«: er verwendet den Begriff des Individuums zunächst wörtlich und dann sogleich metaphorisch ("lebt in denen..."), setzt aber beides gleich. Und solche Unschärfen finden sich auch im folgenden:
Wahrhaft Mensch sein heißt: in der Beziehung der Liebe, des Von und des Für stehen. Sünde aber bedeutet: die Beziehung stören oder zerstören.
Bequemen wir uns also dieser anderen Definition an; Menschsein manifestiere sich in der Relation zu den Mitmenschen und die Störung dieser Relation sei Sünde. Dann ...
Weil es so ist, gilt: Wenn das Beziehungsgefüge des Menschseins vom Anfang her gestört wird, tritt jeder Mensch fortan in eine von der Beziehungsstörung geprägte Welt ein.
... ist der Sündenfall also davon abhängig, dass die Störung des »Beziehungsgefüges« auch tatsächlich eintritt; die Verwendung des Kondizionalsatzes zeigt aber, dass diese Bedingung eben nicht von vorneherein als erfüllt gilt. Und damit ist das folgende falsch, weil es eben das suggeriert:
Mit dem Menschsein selbst, das gut ist, fällt ihn zugleich eine von der Sünde gestörte Welt an. Jeder von uns tritt in eine Verflechtung ein, in der die Beziehungen verfälscht sind. Jeder ist deshalb schon von seinem Anfang her in seinen Beziehungen gestört, empfängt sie nicht, wie sie sein sollten. Die Sünde greift nach ihm und er vollzieht sie mit.
Wenn zudem Sünde in der Störung einer intersubjektiven Relation besteht, ist sie auch ein subjektives vitium und kann nicht als globales Menschheitsdefizit von irgendwoher ererbt sein; es müßte denn sein, der Schöpfer habe seine Geschöpfe von Anfang an »beziehungsunfähig« konzipiert, womit die Verantwortung für die sog. Erbsünde ihm als einem maliziösen Erblasser seelischer Defekte aufgeladen würde, was wir ja nicht annehmen wollen.
Das Ganze lässt sich offenkundig komprimieren auf
(1) eine Definition - Sünde bestehe in der Störung intersubjektiver Relationen: hier ist der Mensch nota bene Agens; (2) die - in keiner Weise begründete - Annahme, diese Störung liege in der Welt ab ovo vor, weshalb (3) der in die Mensch eintretende Welt bereits gestörte Beziehungen habe: hier verschiebt sich der Gedanke, denn abweichend von (1) ist der Mensch nun Patiens, Opfer der Störungen. Inwiefern also sündig?
Das Vorderglied des Begriffs Erb-sünde wird dabei nicht einmal im Ansatz geklärt. Ich für meinen Teil möchte gerne dabei bleiben, die Ablehnung der Erbsündenlehre durch Kant und die Aufklärung als grundlegend befreienden Schritt betrachten.