Womöglich wäre es gescheit zu definieren, was man unter "Kraft" versteht und welche Muskelgruppen man überhaupt "stärken" will. Bei allem Respekt vor pianistischen Koriphäen wie Horowitz – war er auch ein guter Anatom? Offenbar nicht (warum auch, der konnte ja klavierspielen).
Beim Fingerhakeln oder Dosenaufschrauben braucht man auch "Kraft" in den Fingern, aber ich wette, dass dabei von den gefühlt 1001 Muskeln, die an den Bewegungen beteiligt sind, andere "gekräftigt" werden müssen als fürs Klavierspielen.
Den Anhang 19616 betrachten
https://www.dr-gumpert.de/html/uebersicht_muskulatur.html#c111142
Bis auf die lumpigen Interossei (Abb. unter 10) liegen sämtliche HANDmuskeln entweder am Daumen oder am angeblich "schwachen" 5. Finger.
Das kann man aber auch anders interpretieren. Das Bild kann ja in der Form viele Details gar nicht zeigen.
Die Hauptbeugung von Finger 2-5 erfolgt hauptsächlich über Unterarmmuskeln und Sehnen, aber schau doch mal den Sehnenverlauf an:
http://flexikon.doccheck.com/de/Musculus_flexor_digitorum_superficialis
Der ist doch für Finger 4 und 5 im Vergleich zu 2 und 3 alles andere als statisch optimal. Dort ist eine Kraft-Umlenkung notwendig, beim kleinen Finger recht heftig.
Die Sehnen dort dürfen gar nicht so sehr wie bei Finger 2 und 3 und sind sicherlich auch deutlich kleiner ausgeprägt - beim kleinen Finger allein schon baugrößenbedingt ;)
Ich denke mal, auch wenn dort nur ein großer Muskel dargestellt ist, sind die Sehnen an unterschiedlich vielen Muskelbündeln aufgehangen.
Zur Unterstützung der Beugung des kleinen Fingers in der Griffbewegung zum Klavier (Stützung nach unten, Hohlhand) gibts z.B. auch solche Muskeln:
http://flexikon.doccheck.com/de/Musculi_interossei_dorsales
Davon gibts viele Muskeln in verschiedenen Bewegungsrichtungen, und die sind beim kleinen Finger vergleichsweise alles andere als groß.
Ich glaub, man schüttet hier das Kind mit dem Bade aus.
Die Profispieler wissen, wer mit Kraft im kleinen Finger spielen will, der macht vom Geamtbewegungsablauf her etwas falsch.
Daraus abgeleitet versteigt man sich in die pauschalisierende Behauptung, der kleine Finger (und Ringfinger) seien genauso stark wie alle anderen Finger.
Dem wiedersprechen sofort viele Nichtklavierspieler, und können das auch schnell mit Experimenten und Anschauung belegen. Wir können ja mal solange Gewichte an die Fingerspitzen hängen, bis sie nachgeben ;)
Ich kann Liegestütze auf Daumen/Zeigefinger oder Daumen/Mittelfinger machen, aber nicht auf kleiner Finger/Ringfinger - da wäre der Arztbesuch vorprogrammiert.
Sportkletterer nehmen sicher auch lieber Zeige/Mittelfinger als Ring/kleinen Finger.
Der kleine Finger hat als Außenfinger wegen den Griffbewegungen viele extra Muskeln (siehe Bild von Barrat), aber die sind alle sehr klein und vermutlich sprechen diese vielen seperaten Spezial-Muskeln doch eher für besonders viel Trainingseffekt - gerade bei diesem Finger - als gegen einen Trainingseffekt. Wenn ich mir manche Profiklavierspielerhände anschaue, so ist doch genau dieser Außen-Handbereich, wo diese vielen Kleinfinger-Muskeln im oberen Bild von Barrat liegen, eher überdurchschnittlich ausgeprägt. Kein Kraft-Trainingseffekt?
Wer von Kind auf kleinen Finger trainiert durch entsprechende Instrumente, der hat da sicherlich ganz andere Kraft drin - die liegt natürlich zum Teil in der besseren motorischen Verschaltung begründet, aber eben nicht ausschließlich, es gibt auch eine erhebliche Kraft-Trainingskomponente - sowohl Muskeln als auch Sehnen.
Es ist letztlich auch total egal, wie Kraftlosigkeit ursächlich entsteht: aus motorischer Verschaltung, muskulär oder Sehnenstabilität - Training wirkt doch an all diesen Komponenten gleichermaßen.
Insbesondere ältere Anfänger, die nie den kleinen Finger nutzten, haben dort sowhl motorisch verschaltet Defizite, aber auch Muskeln und Sehnen sind deutlich untrainierter. Die notwendige Stabilität für bestimmte Bewegungen ist einfach eine ganz andere.
Ob man jetzt extra Klein-Finger-Kraft trainieren sollte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich argumentiere nur gegen die These, die oft angesprochenen Probleme mit dem kleinen Finger (gab den Thread schon paar mal) haben rein gar nix mit Kraft zu tun. Ich verstehe durchaus, dass Anfänger beim Spielen meistens zzu stark auf diese Kraftkomponente schauen / vermuten, aber eigentlich ein übergeordnetes Bewegungsproblem besteht. Aber es gibt sicherlich auch Leute, die dort stärkere Defizite als andere haben und was insbesondere von-Kindesbeinen-an-zum-Profi gar nicht nachvollziehen können.
PS: Standarddisclaimer gegen blasierte Clavio-Aggrospottereien. Ich bin weder Klavierspieler noch Handchirurg und auch kein Fußballtrainer, ich schaue nur mit Laienlogik auf ein für mich interessantes Thema.