Wenn Du das glaubst, kennst Du im Bereich "Minimal Music" aber nichts gutes.
Könntest Du vielleicht bitte ein paar Namen fallen lassen?
Lieber Dreiklang,
zunächst hat man sich mit einer begrifflichen Unschärfe abzumühen: Zwischen 'reduktiver'
und 'minimalistischer Musik' ist nicht immer genau zu unterscheiden, und in der Literatur
wird auch nicht immer genau unterschieden.
Jedenfalls ist die Reduktion, als Gegengift gegen den Überbietungszwang, ein Urphänomen
der Neuen Musik, gleichberechtigt neben der Steigerung vertrauter Möglichkeiten.
Reduktion ist einer der Taufpaten der frühen Moderne, am radikalsten gleich bei Erik Satie,
der in den "Quatre Ogives" (1886) für Klavier auf die früheste Form der Mehrstimmigkeit
in der abendländischen Musik zurückgreift: das Parallelorganum, und von diesem Nullpunkt aus
Musik ganz neu zu denken beginnt. Leider habe ich im Netz keine gescheite Einspielung davon
gefunden. Als Beleg führe ich nochmals die
"Danses de travers" von 1897 an, weil sie
eines der Muster sind, an denen sich Tiersen orientiert: Gleichförmigkeit der Bewegungsabläufe,
bei Satie aber gebrochen durch die unterschiedliche Zäsuren in der rechten Hand, Diatonik,
bei Satie gebrochen durch unerwartete chromatische Einschübe. Saties Musik
bevorzugt weder Höhepunkte noch Abstürze, sie schwebt, und den Schwebezustand
erzeugt sie durch entfunktionalisierte Harmonik, durch Reihung und Wiederholung,
aber mit einem unfehlbaren Gespür für Ausweichmanöver zur richtigen Zeit.
Aus dem unterschiedlichen Mischungsverhältnis von Reduktion und Erweiterung der Mittel
ergeben sich personalstilistische Eigentümlichkeiten, z.B. bei Janácek (Ganztönigkeit neben
Modalität und Chromatik, Aufbau größerer Formen durch Ostinati und deren Abwandlung).
Ähnliches passiert beim Strawinsky der frühen "russischen" Periode (bis ca.1920),
gut hörbar im ersten der
Drei Stücke für Streichquartett" aus dem Jahr 1914,
das jedem Instrument eine Auswahl an Tönen und ein individuelles Bewegungsmuster zuweist
und aus der Überlagerung der Bewegungsabläufe seinen Witz bezieht (schon sehr minimalistisch).
Im Niemandsland zwischen Reduktion und Komplexion befinden sich die überraschend
wohlklingenden
Zwölftonspiele von Josef Matthias Hauer, der sich - wie Satie -
vom abendländischen Musikbegriff hinwegbewegt und Musik ohne Anfang und Ende komponiert:
Es gibt von ihm hunderte solcher Zwölftonspiele, alle nach demselben Strickmuster verfertigt,
statisch, entindividualisiert, willkürliche Ausschnitte aus einem geträumten Zwölftonkontinuum.
Auch bei Webern geht die Komplexion eine überraschende Verbindung mit der Reduktion ein,
und auch Weberns Musik neigt zur Statik, bedingt durch die abschnittsweise Fixierung
der Oktavlage für Töne oder Aggregate, z.B. in den
Variationen op.27 Nr.1,
2 + 3 .
Mit Webern machen wir einen Sprung über den großen Teich, hinüber in die USA,
zu einer Stilrichtung, für die sich der Terminus Minimal Music eingebürgert hat.
Autochthone Vorläufer in den USA waren Moondog, dessen Erwähnung die forumseigenen
Wikinger erfreuen dürfte und dessen repetitive Musik sich auf der Grundlage dunkler
Trimbaklänge entfaltet, Beispiel:
Bird's Lament, und wie immer und unvermeidlich:
John Cage, dessen
"In a landscape" von 1948 ich bereits vorgestellt hatte.
Reduktion der Mittel ist nicht das einzige Wesensmerkmal minimalistischer Musik.
Ein weiteres Merkmal ist ihre Strukturierung durch Patterns. Entstanden ist
der Begriff Minimal Music in Anlehnung an die Bildenden Künste (Minimal Art),
und wie in vergleichbaren Fällen haben die betroffenen Komponisten, La Monte Young,
Terry Riley und Steve Reich völlig nutzloserweise dagegen protestiert, gemeinsam
in eine Schublade gestopft zu werden - zumal sie sich unterschiedlich entwickelt haben.
Für La Monte Young war die Begegnung mit Weberns Musik das Ur-Erlebnis, hörbar
in den
Five small pieces for string quartet von 1956. Der endgültige Durchbruch
gelang La Monte Young nach seiner Begegnung mit John Cage. Seit Anfang der 60er Jahre
schrieb er lange repetitive Stücke, Musik, in der jedes Zeitgefühl verlorengeht, gedehnte Musik
für wenige Töne, "to be held for along time". Hier ein Beispiel aus dem rein gestimmten
Well tuned Piano von 1960.
Für La Monte Young und Terry Riley wurde der Höreindruck indischer und balinesischer Musik
prägend: Hier
Land's End von Terry Riley, ebenfalls auf einem rein gestimmten Klavier zu spielen.
Steve Reich kam auf ganz anderem Wege zu einer von Patterns strukturierten Musik:
durch das gleichzeitige Ablaufen zweier Bandschleifen auf zwei Abspielgeräten, Aufnahmen
ein- und desselben Textes. Da keine zwei Tonbandgeräte dieselbe Abspielgeschwindigkeit haben,
ergeben sich zeitliche Verschiebungen der patterns (-->phases): hier
"Come out" von 1966
in einer verkürzenden Veranschaulichung des sich entwickelnden Proportionskanons,
woraus Reich ein eigenes Stilprinzip entwickelte (-->phase shifting) und es auf traditionelle
Instrumente übertrug:
Piano Phase (1967). Reich beschäftigte sich mit afrikanischer Rhythmik,
hebräischer Psalm-Kantillation, den Kanonkünsten der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Musik
Europas, mit Bach, Webern, Strawinsky, dem Jazz und entwickelte aus der Summe seiner Erfahrungen
eine hochkomplexe und zugleich sehr unangestrengt wirkende Musik. Beispiel:
Eight lines (1983).
Hier eine analytische Darstellung des dem Stück zugrundeliegenden
Klavierkanons.
Geradezu poppig wirkt ein Stück wie der
Electric Counterpoint # 3 von 1987.
Wie ernst die (post)serielle Avantgarde diesen Gegner nahm, zeigt der Bannfluch,
den sie über den hinter'n "neuesten Stand des Materials" zurückfallenden
Minimalismus aussprach. Darin steckte aber schon ein Stück Anerkennung.
Einen nicht satisfaktionsfähigen Gegner hätte man nicht so bekämpfen müssen.
Unter den Avantgardisten war Ligeti der erste, der dem Minimalismus etwas Befreiendes
abgewann, und es bildete sich eine jüngere Gruppe europäischer Komponisten, die Elemente
der minimalistischen Musik aufnahm und weiterentwickelte (--> Postminimalismus).
Bitte sieh mir nach, daß ich die in diesem Kontext oft genannten Namen Philip Glass
und Yann Tiersen unberücksichtigt gelassen habe. Sie wären hier wirklich deplaciert.
Herzliche Grüße,
Gomez
.