Was haltet ihr von den Thesen von Wim Winters (AuthenticSound auf YT) zu Tempo-Angaben ?

Alle mal festhalten, ich spiele jetzt nämlich einmal den Anwalt des Teufels:

Marx-101.png

Wait, what? Ein technisch versierter Pianist kann das Finale doppelt so schnell spielen als man es üblicherweise hört, oder damals gehört hat?

Quelle:
https://imslp.org/wiki/Anleitung_zum_Vortrag_Beethovenscher_Klavierwerke_(Marx,_Adolf_Bernhard)

Ohne das Video von Winters gesehen zu haben (Ich kann dessen weinerlichen Singsang in schlechtem Englisch wirklich nicht mehr ertragen), weiß ich, dass er diese Passage als Beweis für sein Hirngespinst angeführt haben wird. Woher ich das weiß? Ich habe das Buch gelesen. Es ist nicht sonderlich lang und man kann viele Abschnitte schnell querlesen, ohne Erkenntnisverlust.

Essenz: Herr Marx anerkennt Czerny und Bülow (Es kann nur Hans von Bülow gemeint sein) als absolute Autoritäten in Sachen Beethoven-Interpretation an. Er weiß um das Metronom, relativiert dessen Gebrauch an einigen wenigen Stellen. So wird eine Metronomisierung in der 9. Sinfonie, an der Beethoven herumgeschraubt hat und dann zum Ergebnis kam, dass man's doch weglassen solle, weil jeder Kunstverständige sowieso wisse, wie es zu spielen sei, angeführt. Allerdings stammt diese Aussage aus einer Überlieferung von Schindler - der geneigte Leser wird entsprechende Prisen Vorsicht zum Genuß bereithalten.

Einiges richtiges schreibt er über den Beethovenschen Klaviersatz, dynamische Abstufungen, Phrasierung, klaviertechnische Voraussetzungen etc.

Wirklich erhellend ist dieses Buch nicht, zumal der zweite Teil mit den angeblichen Anleitungen zum Vortrag ausgewälter Sonaten gelinde gesagt extremst dürftig ist. Das Scherzo und die Fuge aus Op. 106 erwähnt er zum Beispiel mit keinem Wort, auch nicht die tatsächlich originale Metronomisierung. Alles in allem vor allem Geschwafel.

Trotzdem, den Satz bezüglich Op. 101 hat er nun einmal geschrieben - und ich kann mir keinen Reim drauf machen.

Um das zu relativieren:

Viertelstunde.png

Bei Marx dauert also Op. 101 eine Viertelstunde und Op. 106 eine halbe Stunde. Ausgehend davon, dass Marx Akademiker war, nehmen wir einfach ct als Annäherung und kommen auf Spielzeiten die den heutigen doch etwas näher kommen.

Tschuldigung, kleiner Exkurs, aber es ist ja auch unterhaltsam (und für mich unabdingbar), Quellenstudium zu betreiben, wenn man eine fundierte Meinung vertreten möchte.

Möge es in diesem Fall zur kopfkratzenden Unterhaltung dienen.
 
Mein Gott!!! Wie oft noch!
Zu meinen Studienzeiten wurde das alberne Buch von Talsma ausführlich widerlegt!
Dann kam Frau Wehmeyer und alle paar Jahre kriecht wieder so ein oder eine Gruppe von Verwirrten aus dem Untergrund. Neu ist jetzt, dass nicht nur Beethoven Sonaten auf abendfüllende Länge gedehnt werden, sondern auch Chopin Etüden.
Es ist auch nicht so, dass ausgerechnet heute so irre schnell gespielt wird!
Ignaz Friedman hat die Chopin Etüden, die er uns hinterlassen hat ja doch recht zügig gespielt und ist Chopin doch über seine Ausbildung viel näher!
Es gibt eine ununterbrochene Tradition von Liszt, der Chopin noch gehört hat zu den Pianisten des Golden Age, die Aufnahmen hinterlassen haben.

UND,:
Wir wollen Mal ein psychologisches Experiment machen:
Nehmen wir dafür (und nur dafür!) kurz an, der Unsinn der halben Tempi würde stimmen, selbst dann müssten wir dennoch mit den modernen Tempi spielen! Warum? Nun wenn musikalische Fachleute und das Publikum damals Beethovens oder Chopin's Spiel als sehr schnell (in den entsprechenden Stücken) empfunden haben, dann haben wir die Verpflichtung, diesen Eindruck wieder herzustellen, also in heute als Allegro oder Presto empfundenen Tempi zu spielen!
Entscheidend ist ja nicht eine Metronom Ziffer, sondern der musikalische Charakter!
 
Zuletzt bearbeitet:
Wir wollen Mal ein psychologisches Experiment machen:

Man kann auch ein ganz praktisches Experiment machen und Mozarts Haffner-Sinfonie mit den Metronomzahlen von Talsma spielen. Für das Finale empfiehlt Talsma Halbe = 76. Das ist gähnend langsam. In einem Brief vom 7. August 1782 schreibt Mozart allerdings über die Sinfonie an seinen Vater: "das Erste Allegro muß recht feüerig gehen. – das lezte – so geschwind als es möglich ist."

Wenn Halbe = 76 zu Mozarts Zeit das schnellst mögliche Tempo gewesen ist, dann waren die Top-Orchester in Wien und Salzburg damals weit unter dem Niveau heutiger Schulorchester. Wer's glaubt...
 
Die schlüssigste Widerlegung kommt für mich aus den Kreisen, die eine direkte Verbindung ins 19. Jahrhundert hatten und uns Aufnahmen und weitere Dokumente hinterlassen haben.

Zwar ist nicht jeder Liszt-Schüler tatsächlich einer gewesen, weil er einmal zum Kaffee in der Hofgärtnerei war, aber Lamond, Stavenhagen und Friedheim zählen ohne Zweifel zu jenem Kreis, deren Interpretation man als autoritativ bezeichnen darf; den letzten Klavierabend, dem Liszt beiwohnte, spielte Bernhard Stavenhagen.

Und wenn man von Lamond dann hört, dass Liszt sich nicht verrückt wegen Tempi gemacht hat und auch durchaus einmal zur Mäßigung aufrief, dann hat das Sinngehalt. Vor allem, wenn man sich vor Augen und Ohren führt, wie nah Lamond und Friedheim z.B. in den Feux Follets in Sachen Tempi beieinander waren. Beides nicht mehr die jüngsten und in dem Alter war auch ein Richter dann ziemlich genau bei diesem Tempo.

Was mich einfach an der ganzen Geschichte ankotzt, ist die Präsentation als 'Scholar', der aber keine drei zusammenhängenden Sätze schreibt. Wehmeyer, so fehlgeleitet sie auch war, konnte wenigstens zusammenhängend schreiben und ein wissenschaftliches Quellenstudium vorweisen. Letztendlich hat sie selbst gemerkt, dass ihre Hypothesen nicht haltbar war. Als ich sie nach halbem Tempo im Scherzo von Op. 106 fragte, erntete ich nur betretenes Schweigen.
 
Gerade das Scarlatti Beispiel (wie schon erwähnt) hat mich überzeugt.

Zu Scarlatti's Zeiten gab es noch kein Metronom! Die Tempi bleiben daher spekulativer als nach 1800.
Man höre dazu die Aufnahmen dieser Sonate (Toccata) von Argerich und Gilels!
Übrigens wurde auch damals (mit Pendeln u. Ä. ) versucht das Tempo zu messen. Wahrscheinlich ist Argerich näher beim Tempo Scarlattis !?
Auch bei Bach ( im WtC gibt's wenig Tempoangaben!) finden wir überzeugende Aufnahmen, die im Tempo extrem abweichen!
 
Habe gerade endlich einige der YT Videos dieses Langsamtöners gesehen!
Chopin Etüden:konfus::cry2::müde:!

Er ist ja unglaublich aktiv und sehr apodiktisch!
Aber nochmals: zwischen Chopins Tod 1849 und den Geburtsjahren der ersten Pianisten von denen wir Aufnahmen besitzen (Friedman!), also in weniger als einem halben Jahrhundert soll sich die Vorstellung der gesamten Musikwelt davon was Allegro ist um den Faktor 2 verändert haben!!!!:lol::lol:
Das ist schlicht lächerlich!
Aber selbst für derartige Fake Olds (news wäre unangemessen) finden sich Abnehmer und Gläubige! Es fällt immer schwerer an die Vernunft des Menschengeschlechts zu glauben!

Interessanterweise scheinen etliche der Gläubigen dieser Tempo-Religion aus den USA zu kommen! Trump grüßt von Ferne!
 
Ich bin gerade in Trumpistan und habe das Gefühl, dass der kollektive IQ hier exponientiell abnimmt.
 
...aha... na ja, auch irgendwo in der Mitte wird es schwierig für diejenigen, die mit Metronom halbiertes Tempo "authentisch" spielen, das am Exempel von Chopins op.10 Nr.9 plausibel zu demonstrieren :lol::lol::lol: (muss ich das an einem Notenbeispiel zeigen?...)

Hi rolf, glaube nicht, dass das nötig ist.

Vom ganzen Charakter her ist op. 10,9 MEINES ERACHTENS relativ zügig ( ohne jetzt genaue Werte anzuempfehlen hier ), denn z.B. gibts da einige Töne in der Linken, die man hervorheben sollte, da sie wichtige Melodieanteile darstellen. ( Die oberen, nämlich meistenteils. Ich machs mit dem Daumen der Linken. ) Wenn die zu lahm sind, ( und insgesamt zu lahm die Etüde gespielt wird ), dann dauert das Melodiegezeugs zu lange, und Etüde wird nervig.

=> Kann nicht Idee von Chopin gewesen sein.

"Chopin": Früher gabs auch Fadenpendelmetronome, eins ist abgebildet in H.K.H. Lange: So spiele und lehre ich Chopin.

[...]
Gerade das Scarlatti Beispiel (wie schon erwähnt) hat mich überzeugt.
[...]

Bei Scarlatti glaube ich, dass wir da sehr vorsichtig sein müssen. Aus einem einzigen Grund:

Sehr viele seiner Sonaten hören sich langsam gut an - und schnell auch!

Taktellwerte hat er aber glaub ich nicht hinnotiert. :-D

...also fragen wir Experten Michelangeli zum Thema L 449 / K 27 h-Moll :

Und er macht FEUER!! :-) .... andere leider ( meist ) nicht...auch wenns berühmte Klavierspieler sind...

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Zu diesen Tempohalbierungen: Da war mir der Name Wolfgang Weller im Gedächtnis geblieben - aus ähnlichen wie den Thread-Titel-Fragestellungen hier wurden seine Thesen ja auch schon diskutiert hier...und meist als unzureichend erachtet, wie ich mich erinnere...

OK, so far von mir.

LG, -Rev.-
 
Der Herr hat bei seinen Vierteln, Achteln und Sechzehnteln offensichtlich Rythmusprobleme. Er kann allerdings gut rechnen.

CW
 
Zuletzt bearbeitet:

Ich habe selbst schon auf alten Instrumenten gespielt! Natürlich bleibt die leichtere und kleinteiligere Mechanik der Instrumente um 1800 bis 1850 etwas leichter hängen und reagiert ausgesprochen unfroh auf martellato Hiebe.
Aber bei leichter Spielweise gehen die Möglichkeiten Töne zu repetieren meist deutlich über 120 hinaus! Allerdings immer mit einem Restrisiko des Blockierens.
Czernys Metronome für seine Etüden sind allerdings etwas pervers, auch auf modernen Instrumenten. Halbe gleich 100 bei Sechzehnteln!!
Czernys Metronome für die Beethoven Sonaten sind allerdings deutlich normaler!
Die Erfindung der Repetition Mechanik durch Erard ist dann ein erheblicher Schritt zu größerer Zuverlässigkeit.
Die Argumentation, das nicht gelingende klobige Repetitionsversuche etwas über die Gültigkeit Beethovenscher Metronomziffern aussagt, ist aber recht kühn!
 
Wieso ist das kühn? Schneller als es geht, geht es nun mal nicht, oder?
 
Wieso ist das kühn? Schneller als es geht, geht es nun mal nicht, oder?

Es ist selbst bei recht guten Nachbauten und/oder gut erhaltenen Originalen schwer einzuschätzen, wie zuverlässig die Originale in ihrer Zeit funktioniert haben. Außerdem können wir nicht wirklich einschätzen, wir damals tatsächlich gespielt wurde, es gibt ja keine Aufnahmen!
Wenn es darum geht, ob bei Viertel 120 oder 144 Repetitionen noch möglich waren und dann versucht wird daraus eine Theorie über die originalen Tempi für Beethoven Sonaten abzuleiten (Beethoven verwendet extrem schnelle Repetitionen eher selten) dann nenne ich das kühn!
 
Aber nochmals: zwischen Chopins Tod 1849 und den Geburtsjahren der ersten Pianisten von denen wir Aufnahmen besitzen (Friedman!), also in weniger als einem halben Jahrhundert soll sich die Vorstellung der gesamten Musikwelt davon was Allegro ist um den Faktor 2 verändert haben!!!!:lol::lol:
Das ist schlicht lächerlich!
Ein halbes Jahrhundert ist eine lange Zeit. Selbst während meiner kurzen Lebensspanne konnte ich problemlos beobachten, wie sich Detailwissen über Computertechnik der Frühzeit über ein paar Jahrzehnte nach Stille-Post-Methode mehr oder weniger stark verändert hat, um dann schließlich irgendwann bei Wikipedia anzukommen.

Was wird wohl in 100-200 Jahren der Kanon über die Anfänge der Entwicklung des persönlichen Computers und des Internets sein? Die Original-Quellenlage ist nämlich denkbar schlecht - die dezentral, auf vergänglichen Datenträgern abgelegten, digitalen Aufzeichnungen der Computer-Steinzeit sind schon heute großenteils verloren. Viel mehr als Anekdoten von wenigen Zeitzeugen sind da nicht übrig. Ich denke, die xte Kopie des populären Lexikons unserer Zeit wird da eine gewichtige Rolle spielen - weil man nichts anderes hat. Dort ist eben sehr viel erfaßt, auch wenn es recht ... nennen wir es mal ... ungenau ist. Es sind halt nur Menschen am Werk.
 
Ja, es sind Menschen am Werk, und Missverständnisse sind etwas typisch Menschliches. Würde denn wirklich die Welt untergehen, wenn einige historische Metronomangaben tatsächlich anders zu lesen wären als wir das heute regulär tun? Auf jeden Fall sind für mich materielle Dinge wie die Mechanik eines Klaviers verlässlichere Brücken in die Vergangenheit als sprachliche Überlieferungen. Vor vielen Jahren habe ich mich in mehreren Arbeiten in meinem Studium mit der Frage befasst, wie die Entwicklung des Klavierspiels mit der Entwicklung des Klavierbaus, speziell der Mechanik, zusammenhängt. Auf meiner HP forte-piano.de habe ich diese Arbeiten zur freien Verfügung hochgeladen (unter der Rubrik Unterricht), ich freue mich, wenn ihr die Zeit findet, dort mal nachzulesen.
 
Wenn es darum geht, ob bei Viertel 120 oder 144 Repetitionen noch möglich waren und dann versucht wird daraus eine Theorie über die originalen Tempi für Beethoven Sonaten abzuleiten (Beethoven verwendet extrem schnelle Repetitionen eher selten) dann nenne ich das kühn!

Dem kann ich nur beipflichten. Und wenn man dann noch bedenkt, dass es Aufnahmen mit Pianisten gibt, die recht flotte Tempi nahe an den Beethovenschen Metronomangaben sind und diese Aufnahmen auf historischen Instrumenten zu hören sind, dann relativiert das schon einiges.

Stellvertretend für nur einige seien hier Paul Badura-Skoda und Peter Serkin genannt, die die Hammerklaviersonate derart eingespielt haben. Und Op. 106 ist nun mal die einzige Sonate mit originalen Metronomangaben, die im Scherzo dann auch tatsächlich schnelles Repetieren erfordert.
 
Beethoven hat damals an seinen Verleger geschrieben: "Da haben sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in 50 Jahren spielen wird."

Wenn man bedenkt, dass die Instrumentenentwicklung damals rasante Fortschritte gemacht hat, könnte man das sehr gut als Indiz auch dafür sehen, dass es Beethoven nicht sonderlich interessiert hat, ob man die Sonate auf den gerade verfügbaren Instrumenten gut spielen konnte. Es war Zukunftsmusik im wahrsten Sinne des Wortes.
 

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