Was haltet ihr von den Thesen von Wim Winters (AuthenticSound auf YT) zu Tempo-Angaben ?

Aus den schon erwähnten Gründen ist auf eine Halbierung nicht zu schließen. Dass manches Stück in halbem oder verdoppeltem Tempo gefallen mag, zeugt hauptsächlich von der Tatsache, dass der Wert vieler Aspekte einer Komposition nicht durch das Tempo bestimmt wird. So muss man nachvollziehen, warum uns heutigen Musikern die authentischen Tempoangaben aus dem 19. Jh oft seltsam vorkommen. Man vergesse nicht, dass modebezogene Tendenzen zu wesentlichen Geschmacksänderungen geführt haben, wie die Geschichte der Tondokumente aufweist. Es soll nicht davon ausgegangen werden, dass die Tempi, die früher angegeben wurden, auch heute unbedingt schlüssig erscheinen müssen – insofern braucht man keine Theorie zu erfinden, um diese Diskrepanz zu glätten.

Das ist natürlich unbefriedigend für diejenigen, die denken, dass das Authentische objektiv auch das Beste sei, d.h. dass man Authentisches allem anderen vorziehen würde, selbst wenn man nicht aus der Tradition kommt, in der dieses Authentische gültig war. Vergleichbare Irrtümer sind zB bzgl. des "Natürlichen" in der Ernährung oder des "Ursprünglichen" in der Psychologie allgemein verbreitet.

PS es ist nicht zielführend, ohne wirklich zwingenden Grund mit Argumenten der technischen Fähigkeit aufzutreten. Tatsache ist, dass für mechanisch kompetente "éxécutants" sowohl das "wörtlich gelesene" Tempo als auch das halbierte machbar ist.
 
dass das Authentische objektiv auch das Beste sei
Selbst die Alte-Musik-Szene hat sich von ihrer Oberlehrer-Attitüde inzwischen verabschiedet und nennt ihr Tun heute "historisch informierte Aufführungspraxis" statt "Originalklang", während sich da vor noch gar nicht so langer Zeit ein Volk von Rechthabern und Besserwissern tummelte, die glaubten, alles richtig zu machen.
 
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Selbst die Alte-Musik-Szene hat sich von ihrer Oberlehrer-Attitüde längst verabschiedet und nennt ihr Tun heute "historisch informierte Aufführungspraxis", während sich da vor noch gar nicht so langer Zeit ein Volk von Rechthabern und Besserwissern tummelte, die glaubten, alles richtig zu machen.

Jetzt schauen wir mal, wie es mit der Halbes-Tempo-Ist-Bestes-Tempo-Szene wird...
 
(1) Aus den schon erwähnten Gründen ist auf eine Halbierung nicht zu schließen. (…)
(2) Das ist natürlich unbefriedigend für diejenigen, die denken, dass das Authentische objektiv auch das Beste sei, d.h. dass man Authentisches allem anderen vorziehen würde, selbst wenn man nicht aus der Tradition kommt, in der dieses Authentische gültig war. (..!..)
(3) PS es ist nicht zielführend, ohne wirklich zwingenden Grund mit Argumenten der technischen Fähigkeit aufzutreten. Tatsache ist, dass für mechanisch kompetente "éxécutants" sowohl das "wörtlich gelesene" Tempo als auch das halbierte machbar ist.
@kitium
zu (1) überwiegend Zustimmung :-) lediglich als kleine Präzisierung: manches von Komponisten fixierte Tempo stößt heute aufgrund anderer Hörgewohnheiten, die nicht zwingend "richtig" sein müssen, auf Verwunderung: z.B. Schumanns Metronomangabe zur Träumerei *)

zu (2) eine abweichende Anmerkung: die Befrürworter der halbierten Metronomtempi ("metrische Metronomisierung"), also dass das Metronom je Pendelschwingung zweimal ticken muss, behaupten von sich, die authentischen Tempi ermittelt zu haben - beweisen tun sie ihre Behauptung allerdings nicht, da ihnen dazu 1. die Quellen fehlen und 2. der daraus notwendig abzuleitende Temposprung um 1850 (plötzliche Verdopplung der Geschwindigkeit) auch von diesen selber nicht plausibel erklärt werden kann. Kurzum: das ist weder authentisch noch nachgewiesen.

zu (3) 100% d´accord! Nichts anderes schrieb Liszt sinngemäß an Wagner.

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*) dieses Thema ist wohlbekannt, ja geradezu unerträglich oft wiedergekäut - amüsant dabei ist, dass die Träumerei bei den so dogmatisch-großspurigen wie irrenden "Tempohalbierern" wenig Beachtung findet...hier geht jeder davon aus, dass Schumann je "Schlag" genau ein ticken und kein tick-tack gemeint hat... erstaunlich ;-):-D
 
1836 brachte Schott in Mainz eine "Kurze Abhandlung über den Metronomen von Mälzl und dessen Anwendung als Tempobezeichnung sowohl als bei dem Unterricht in der Musik" heraus.

https://books.google.de/books?id=BXdXAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false
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"Setzt man z. B. das bewegliche Gegengewicht auf 70, so macht der Pendel in einer Minute so viele Schwingungen als diese Nummer besagt."

Preisfrage:

Wenn ein Compositeur die Viertel mit der Nummer 70 bezeichnet, wie viele Viertel erklingen dann in einer Minute?
 
Noch ein Beispiel: Schumanns Metronomangaben (mal ab Minute 3 schauen).. sowie ab etwa Minute 5:40.

Für das Thema "Tempi des 19. Jahrhunderts" völlig uninteressant.

Jeder mag Schumann-Stücke so schnell oder so langsam spielen, wie er will.
Wer will, kann ein und dasselbe Stück auch einmal langsamer und ein anderes Mal schneller spielen.

Auch Schumann hat mitunter seine eigenen Tempi geändert. Der Geiger Joseph von Wasiliewski berichtet z. B.:

"... geschah es, daß Schumann nach den As-dur-Variationen des zweiten Quartetts (F-dur) sich mißbilligend über das von uns ruhiger genommene Tempo der Coda äußerte. Als wir ihn in Folge dessen darauf aufmerksam machten, daß er ja ausdrücklich ein ,piu lento' bei dieser Stelle vorgeschrieben habe, erwiederte er mit der größten Bestimmtheit, daß das nicht richtig sei, indem er uns zugleich ersuchte, das Wort ,lento' in ,mosso' umzuändern. Um einen Druckfehler handelte es sich in diesem Falle freilich nicht, denn in dem Manuscript des Meisters ... ist gleichfalls an der betreffenden Stelle ,piu lento' zu lesen. Es ist gewiß nicht zu bezweifeln, daß Schumann ursprünglich für diese Bezeichnung gewesen ist, ebenso aber auch, daß er später seine Ansicht geändert hat."

zit. nach Dietrich Kämper, Zur Frage der Metronombezeichnungen Robert Schumanns, in: Archiv für Musikwissenschaft 21, H. 2. (1964)

Und auch Clara Schumann hat die Stücke ihres Mannes später mit verschiedenen Metronomangaben herausgegeben.
"Von insgesamt 137 zur Untersuchung herangezogenen Metronomzahlen der Einzelausgaben stimmen 81 (= ca. 59%) mit denen der Erstausgaben überein, während 56 (= ca. 41%) von denen der Erstausgaben abweichen."

Als schönes Beispiel der erste Satz der Klaviersonate op. 14:

Robert Schumann gibt in der von ihm selbst besorgten Druckfassung an: Halbe = 58

Clara Schumann edierte in den 1880er Jahren das Werk zweimal.
In der Gesamtausgabe gibt sie an: Halbe = 76
Und in der "instruktiven Ausgabe": Viertel = 126 (also Halbe = 63)
 
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Ich danke euch schonmal für die interessanten Kommentare!

Es macht Freude sich mit euch auszutauschen. :super:

Schönen Abend noch allerseits.
 
Ich finde zwei andere Aspekte wesentlich wichtiger.

(1) Viel bedeutsamer als irgendwelche Metronomangaben ist das Wissen, dass damals die Instrumente deutlich anders waren. Wer weiß, welche Zahl ein Frédéric Chopin für einen Bösendorfer Imperial angegeben hätte? Wenn der Tastentiefgang geringer, die Tondauer kürzer, das Pedal schwächer, die Taste weniger lang und der Gesamtklang leiser ist, spielt man automatisch schneller. Es geht leichter und es entstehen sonst Klanglöcher.
Außerdem hat speziell Chopin seine Stücke überwiegend in kleineren Räumen aufgeführt, das "große" Konzert [mit halliger Akustik, die langsamere Tempi verlangt] wurde gerade erst "erfunden", und Chopin hat nur äußerst ungern mitgemacht (!). Der spielte lieber im kleinen Kreis.

(2) Das ist mir erst in den letzten Jahren durch eine neue Sicht auf die Dinge klargeworden: Ich halte es für ungut, den Notentext als "blind endgültig" und das Niedergeschriebene als absolut unantastbar zu bezeichnen. Wenn jemand etwas komponiert und es aufschreibt steht er u.U. vor dem Dilemma, sich durch die Verschriftlichung auf eine einzige Version festzulegen. Durch Dynamiken, Artikulation etc. wird die Version sehr detailliert. Natürlich sollte man den Notentext genauestens studieren, verstehen und ausführen können. Allerdings ist er manchmal nur ein unbefriedigender Spiegel dessen, was der Komponist gemeint hat, und die Spielanweisungen (inkl. Metronomzahl) Hilfen zur Orientierung.
Das mag nicht immer so sein, aber ich bin mir sicher, dass es manchmal so ist. Das belegen auch Anekdoten z.B. von Rachmaninov, der eine Stelle "irgendwie" spielte. Und auf die Nachfrage eines Pianisten, der das Werk geübt hatte und darauf hinwies, sagte er sinngemäß "Das kann sich doch keine Sau merken!" :-DWie so oft weiß ich dazu keine Quelle, weil ich mir sowas nicht merken kann. Vielleicht weiß das @mick
 
Ich halte es für ungut, den Notentext als "blind endgültig" und das Niedergeschriebene als absolut unantastbar zu bezeichnen.
Ein Prof. hier erforscht und editiert Noten. Der hat mal ein Seminar über diese Arbeit gehalten. Man glaubt gar nicht, wie viele "Urtexte" es manchmal gibt. So ist eine gedruckte Ausgabe oftmals nichts weiter als eine Entscheidung des Herausgebers. Das mal als Info für alle, die immer vom "Willen des Verstorbenen" schwadronieren...

Komponisten haben immer wieder nach den ersten Aufführungen in den Handschriften und auch in den Erstdrucken herumgekritzelt.
 
Und auf die Nachfrage eines Pianisten, der das Werk geübt hatte und darauf hinwies, sagte er sinngemäß "Das kann sich doch keine Sau merken!" :-DWie so oft weiß ich dazu keine Quelle, weil ich mir sowas nicht merken kann. Vielleicht weiß das @mick

Mir schwirrt seit Jahren eine Anekdote im Kopf herum, und ich kriege nicht mehr heraus, wo ich sie gelesen habe:
Olivier Messiaen soll sinngemäß gesagt haben: "Ach, spielen Sie doch die Amsel (oder welchen Vogel auch immer) bitte rhythmisch nicht so exakt, wie es notiert ist - es ist schon schlimm genug, daß ich mich auf die Tonhöhen habe festlegen müssen."
 
Wenn man notierte Neue Musik ansieht wird klar, dass das aktuelle Notationssystem dafür nicht ausgelegt ist. Vielleicht einigt man sich mittelfristig ja auf eine weiterführende Notierung, so dass nicht jeder vorne einen Index mit Erklärungen einfügen muss.
Manche Dinge sind schriftlich, das heißt graphisch, einfach kaum festzuhalten. Schonmal versucht, einen Geruch zu beschreiben? Das gelingt nur durch Vergleiche, die wiederum Erfahrung voraussetzen.
 

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