"musikalität" trainieren?

  • Ersteller des Themas Gsus eaten
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Hi,

Musikalität ist nicht die Summe addierter Einzelheiten - - vielleicht hilft Dir folgendes Bild: man kann nicht trainieren, ein Baum zu sein, wenn man nur die einzelnen Wurzelstränge betrachtet.

rolf, deine Vergleiche sind immer spitze. ;-)

Aber wenn du die addierten Einzelheiten jeweils für sich verbesserst, was passiert dann mit der Summe?
Meiner Meinung ist die Antwort klar, die Summe wird auch besser.
Allerdings ist es kein lineares Verhalten.


Zum bekannten Satz "Das Ganze ist mehr wie die Summe seiner Teile" (Aristoteles):
Emergenz ist eine (postulierte) Eigenschaft komplexer Systeme, also auch der Musikalität (hab' ich doch indirekt gesagt ;-) ). Aber ob "echte" Emmergenz (1+1=2+x, x!=0 ;-) ) eine mögliche grundsätzlich vorkommende Eigenschaft unserer Welt ist, ist soweit ich weiss noch nicht bewiesen.

"Unechte" Emmergenz kommt natürlich dann vor, wenn man ein System noch nicht komplett verstanden und alle seine Einzelheiten und deren Relationen noch nicht kennt. Das ist mM auch ein sehr praktikabler Weg, da es oft nicht sehr sinnvoll ist oder gar nicht möglich ist ein System komplett zu beschreiben, sondern es nur in die praktikablen Teile aufteilt, zB bei der Musikalität in solche Dinge wie Rhythmusgefühl und Gehör.

Anmerkung: Von "echter" und "unechter" Emmergenz zu sprechen ist mein Sprachgebrauch im obigen Sinne.

Gruß
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Aber wenn du die addierten Einzelheiten jeweils für sich verbesserst, was passiert dann mit der Summe?
Meiner Meinung ist die Antwort klar, die Summe wird auch besser.
das mag beim Kuchenbacken so sein, dass er mit verbesserter Qualität der Zutaten (adierten Einzelheiten) am Ende besser schmeckt - Musikalität ist aber kein statisches Produkt aus solchen Einzelheiten, welches nach Fertigstellung verzehrt wird wie der Kuchen ;)
Der Denkfehler besteht darin, den abstrakten Begriff Musikalität als addierte Summe von Eigenschaften aufzufassen - aber Musikalität ist keine Summe, ebensowenig ist ein Gemälde nur die Summe aus Leinwand und Ölfarben. Zudem ist Musikalität nicht an ein bestimmtes Instrument gebunden (d.h. wer Klavier spielt ist nicht musikalischer als der, der Querflöte spielt), denk nur an den tauben Beethoven: dem hatte das klimpern, was er nicht mehr hören konnte, bei der Komposition seiner Missa solemnis nicht mehr geholfen - aber unmusikalisch war er in dieser Zeit sicher nicht. Was also hätte man dem tauben Beethoven empfehlen sollen, wenn er denn die Frage gestellt hätte, ob und wie er seine Musikalität verbessern könne? "lerne hören, Meister" wäre wohl ebenso flach wie zynisch gewesen...
Ergo: Musikalität hat mit verstehen, begreifen, innerlich erleben zu tun - in Tönen und Klängen denken können, am Instrument käme die adäquate Umsetzung hinzu. Und auch die will begriffen sein, denn man hört, ob sinnvoll gespielt wird oder nicht.
Bei Musikalität geht es also nicht um die Quantität (Summierung von als musikalische postulierten willkürlich ausgewählten Details) sondern um die Qualität als Folge des Verstehens.
 
Noch eine Bemerkung zum Trugbild, Musikalität könnte die Summe von Einzelheiten sein:
kennt denn irgendwer eine verläßliche und komplette Liste dieser Einzelheiten?...

Sodann als Denkanstoß:
Choreografen und Balletttänzer/innen sind nicht unmusikalisch, obwohl sie für ihren musikalischen Beruf nicht zwingend ein Instrument spielen müssen :)
 
Hi rolf,

der Begriff System, den ich benutzt habe, gilt ganz allgemein und damit auch für nicht stoffliche Systeme.

Musikalität kann man, wie du es machst, einfach als Blackbox betrachten ohne innere Untersysteme und ihre Zusammenhänge.

Ich betrachte Musikalität ganz allgemeine als mentale (geistige) Fähigkeit (=System), die sich aus mehreren betrachteten mentalen Unterfähigkeiten (Untersysteme) zusammensetzt, zB die Liste von Stilblüte. Man muss allerdings beachten, dass das ein künstliches Modell ist, das seine Daseinsberechtigung nur dadurch bekommt oder überprüft werden muss, dass die Vorhersagen zu bestimmten Eigenschaften aufgrund dieses Modells in der Realität dann auch zutreffen.

Jede Qualität einer Unterfähigkeit trägt etwas zur Gesamtqualität der Musikalität bei. Die Gesamtqualität der Musikalität ist nicht die Summe der betrachteten Unterqualitäten (Emergenz), da das System zu komplex ist. Es können komplexe ( ;-) ) Zusammenhänge auftreten, zB dass die Erhöhung einer isolierten Unterqualität erstmal gar nichts bewirkt. Ein typischer Fall ist der, dass diese isolierte Qualität nur dann zum Tragen kommt, wenn andere Qualitäten in bestimmten Zusammenhängen mitauftreten. Das ist dann wohl dein Beispiel.

Es könnte sogar auch, ganz allgemein betrachtet, Unterfähigkeiten geben, deren höhere Qualität die Gesamtqualität der Musikalität reduzieren oder nicht verändern. Allerdings müsste man dann solche Unterfähigkeiten stark in Frage stellen, da sie dann per Definition kein positiver Bestandteil der Musikalität wären.

Nichts für ungut. Das war ein bischen Systemtheorie ala Bachopin: ;-)

Gruß
 
Hi rolf,

ich habe keinerlei Einwände gegen allerlei Systemtheorie ;) - - zu fragen ist nur, ob diese als Korsett denn Musikalität fassbar macht... So lange im plan/platt einfachen Additionsmodell die Anzahl der Summanden unbekannt ist, ist das Ergebnis nicht viel wert ;)

auch wenn es überraschend ist, ich bin auch Praktiker. ;-)
Volle Zustimmung.

Zum Praktischen zurück. Ich finde die Liste von Stilblüte ist ein guter Ansatz.
Man kann zB die Punkte durchgehen und sich fragen, wie man seine Fähigkeit zum jeweiligen Punkt einschätzt. Wenn man dann Defizite erkennt, dann kann man konkret versuchen diesen Bereich zu verbessern.

Interessant und wichtig wäre mM auch, ob diese Liste überhaupt einigermasen komplett ist oder ob wichtige Punkte fehlen.

Gruß

PS: Vom einfachen Additionsmodell bin ich übrigens bei der Musikalität nie ausgegangen, sonst hätte ich sie nicht komplex genannt.
 
PS: Vom einfachen Additionsmodell bin ich übrigens bei der Musikalität nie ausgegangen, sonst hätte ich sie nicht komplex genannt.
...dann ist mir die Veranlassung für Deine Trainingsfrage bzgl. der Einzelheiten, welche angeblich die Summe verbessern, ziemlich schleierhaft.

Ich wiederhole noch mal die Anregung, sich zu überlegen, wie es um Musikalität und Ballett bestellt ist.
 
Hi rolf,

...dann ist mir die Veranlassung für Deine Trainingsfrage bzgl. der Einzelheiten, welche angeblich die Summe verbessern, ziemlich schleierhaft.

ich hab' jetzt nicht nachgeschaut, was ich geschrieben hatte. Mein Modell oder Annahme ist jedenfalls, dass, wenn man die Einzelheiten (oder Unterfähigkeiten) trainiert, sich auch die Hauptfähigkeit Musikalität verbessert.
Davon bin ich ziemlich überzeugt. ;-)
Allerdings weiss ich nicht in welcher Proportionalität und dummerweise sind wahrscheinlich alle Unterfähigkeiten für ein gutes Gesamtergebnis wichtig.

Das ist jedenfalls mein Bild oder (Lern-)Modell von Musikalität.

Ich wiederhole noch mal die Anregung, sich zu überlegen, wie es um Musikalität und Ballett bestellt ist.

MM absolut richtig. Wobei ich zu klassischem Ballett bisher kein Zugang gefunden habe. ;-)
Musik beruht zu hohem Grad auf tänzerischen Elementen. Das ist wohl ein Urbedürfnis des Menschen, die Verbindung zwischen Rhythmus und Bewegung.
Es gibt ja in der Klavierdidaktik auch den Begriff der (Spiel-) Bewegungschoreographie (S. Bernstein oder Whiteside). Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt höheren Klavierspielens, dass die Spielbewegungen sozusagen tänzerisch unter Einbezug des gesamten Körpers ausgeführt werden. Wobei das muss dann nicht so aussehen, wie beim Hampelmann Lang Lang, das kann auch mehr innerlich stattfinden wie zB bei Horowitz.

Gruß
 

Ist die Technik nicht nur Mittel zum zwecke und letztlich die bestimmende, limitierende, Bandbreite wie sehr musikalität potentiell zu tage treten kann. (potentiell denn man kann auch "scheiße"(imperfekt) musikalisch spielen)
Das ist wie mit dem Holzeimer, die einzelnen bretter ( bin zu faul zu googeln ) sind die einzelfähigkeiten, technischen "teilbereiche" ( aber auch anders, variable zu benennen (immunität olé olé *feier*)). normalerweise sind sie, bei Fass oder eimer, i.d.R. gleichlang. Das kürzeste aber das welches die höhe des wassers bestimmt dass der eimer fassen kann. Nur weil alle, wie heißen denn diese dinger, immer länger gemacht werden und der eimer immer eleganter daherkommt, heißt es nicht dass er wasser hegt. Und ob das dem durstigen dann letztlich in den ohren schmeckt ist dann wieder eine andere frage.
 
Wenn man mal nicht über Musikalität spricht, sondern z.B. die Bildhauerei nimmt, wird vielleicht Einiges deutlicher.

Ich weiß nicht sehr viel über Michelangelo, habe nur eine Biographie gelesen, aber seine Werke berühren mich zutiefst. In der Biographie wird beschrieben, wie er an sie heranging: er schaute, was in dem Stein, dem Marmor steckte, er sah das im Stein verborgene Kunstwerk. Er fühlte und spürte, welchen Stein er nehmen musste, um das zu erschaffen, was ihm vorschwebte und dadurch unterschied er sich von allen Zeitgenossen. Dazu kamen seine revolutionäre Kraft, seine Visionen und seine Kunst, all dies auch umzusetzen.

Besonders das Erste kann man nicht lernen, davon bin ich überzeugt! Wenn man den Artikel über Clara Haskil liest, wird auch klar, dass man eine Musikalität, die weit über den Musikbegriff hinausgeht, weil sie alles sagt, nicht lernen kann.

Was man lernen kann und wo man nie auslernt, ist die musikalische Gestaltung. Ich meine, man darf diese Begriffe, Musikalität und musikalische Gestaltung, nicht miteinander verwechseln. Auch musikalische Gestaltung hat ihre Grenzen, wenn Musikalität nicht wirklich vorhanden ist. Trotzdem ist Musik meiner Meinung nach etwas Universelles, was in jedem Menschen mehr oder weniger verborgen/vorhanden ist und so können über Erfahrungen mit Musik viele oder sogar alle musikalisch schön gestalten und Musik innerlich erleben.

Aber diese Form der Musikalität, über die wir hier sprechen, ist m.E. nicht erlernbar. Die ist ein unschätzbares Samenkorn, was natürlich einen fruchtbaren Acker braucht, um aufgehen zu können. Vielleicht bahnt sich eine solche Musikalität aber auch anders einen Weg.

Lieber Gsus eaten, deine Ausgangsfrage war ja auch, wieso dich manches Spiel anrührt und manches nicht.

Ich glaube, dass dies auch viel mit einem selbst zu tun hat, wobei die ganz großen Interpretationen vielleicht von allen als wunderbar empfunden werden.

Liebe Grüße

chiarina
 
Mein Modell oder Annahme ist jedenfalls, dass, wenn man die Einzelheiten (oder Unterfähigkeiten) trainiert, sich auch die Hauptfähigkeit Musikalität verbessert.
Davon bin ich ziemlich überzeugt. ;-)
Allerdings weiss ich nicht in welcher Proportionalität und dummerweise sind wahrscheinlich alle Unterfähigkeiten für ein gutes Gesamtergebnis wichtig.
Das ist jedenfalls mein Bild oder (Lern-)Modell von Musikalität.
...wenn man nicht weiß, wie die Proportionalität ist, und wenn man zusätzlich nicht weiß, ob man denn überhaupt alle "Unterfertigkeiten" kennt - - - wie bei allen Göttern kann man dann überzeugt sein, dass sich die "Hauptfähigkeit" verbessert? Da sind doch arge logische Holprigkeiten in der Überlegung...

angenommen, du wüsstest vom Kochen nur, dass man salzen und pfeffern sollte, und nun trainierst du vehement und voller Überzeugung das salzen und danach das pfeffern - kannst du dann deswegen plötzlich kochen, weil kochen nur aus der Summe von pfeffern und salzen besteht?...

Deine hoffnungsfrohe Überlegung zur Summierung der einzeln verbesserten "Unterfertigkeiten" hat zwei gravierende Fehler:
1. bist Du nicht in der Lage, alle Unterfertigkeiten aufzuzählen, geschweige denn, deren Verhältnisse zueinander - das kann zu keinem vollständigen Ergebnis führen (Logik)
2. du bleibst beharrlich beim summieren - Musikalität ist aber ebensowenig die Summe irgendwelcher einzelner Befähigungen wie Mathematik die Summe der Grundrechenarten ist ;)

...und irgendwie habe ich den leisen Verdacht, dass hier durch den allgemeineren Begriff der Musikalität der vielen lästige Begriff des musikalischen Talents, der Begabung ersetzt werden soll... das wird (leider) nicht funktionieren.
 
Hi chiarina,

ich gebe dir ein bischen recht, aber auch wieder nicht. ;-)

Die Trennung zwischen Musikalität und musikalischer Gestaltung fand ich spontan sehr gut und vielleicht meinte ich mit Musikalität nur musikalische Gestaltung (vielleicht besser Gestaltungskraft).

Aber dann ist mir aufgefallen, das ist doch eigentlich das gleiche. Diese Trennung ist irgendwie künstlich. Man trennt sozusagen in den lern- und trainierbaren Teil der Musikalität, das ist die musikalische Gestaltung und in das unlernbare Samenkorn, die "wahre" Musikalität.

Durch was willst du Musikalität von musikalischer Gestaltung unterscheiden? Durch die Qualität? Das kann nicht sein, auch die Qualität der Musikalität ist quantitativ und nicht absolut.

Allerdings ist es natürlich schon so, dass die Menschen unterschiedliche Anlagen haben, aber wieviel davon sozusagen Gott gegeben und wieviel erlernt wird, das ist immer noch ein grosser Streitpunkt in der Wissenschaft.

Das Beispiel von Michelangelo passt übrigens mM nicht. Gerade klassische Bildhauer müssen extrem viel lernen, da die Steinbearbeitung handwerklich nicht einfach ist.
Wie willst du da jetzt das gelernte von dem nicht gelernten unterscheiden?
Klar, Michelangelo war ein absoluter Spitzenkönner, aber was von seiner Kunst hat er durch entsprechendes Training gelernt (weil die entsprechenden Grundanlagen und Umstände vorhanden waren) und was war schon immer da? Das kannst du im Nachhinein wie zB auch bei Mozart nicht mehr trennen.

Das ganze geht irgendwie in die Richtung der alten Frage "Gibt es Talent?".
Und zu dieser Frage gibt es mM klare Tendenzen in der Forschung, dass es das im alten Sinne (man hat's oder man hat's nicht) nicht gibt. Der Mensch mit seinen unspezifischen Grundanlagen bildet seine Fähig- und Fertigkeiten durch seine Umgebung und durch sein eigenes Verhalten (Lern/Spielverhalten) aus.

Gruß
 
Interessantes Thema.

...heißt es nicht dass er wasser hegt. Und ob das dem durstigen dann letztlich in den ohren schmeckt...

Gsus eaten, du bist wirklich kreativ in deinen Beschreibungen. ;) Macht Spaß zu lesen. Mir gefällt in deinem Eingangsbeitrag auch dieses Suchende in deinen Metaphern.

Dafür muss ich kurz in etwa umreißen, was ich mit Musikalität meine. Wenn was unklar ist, nachfragen, ich will hier keine Romane schreiben. Sicher ist meine Liste auch unvollständig, da nur kurz überlegt.

- ein Gespühr für Phrasen, Abschnitte, Bögen und deren logischer und gleichmäßiger (dynamischer) Beginn, Fortführung und Schluss.
- ein Gespühr für klangliche, harmonische, dramaturgische (...) Verdichtung und Nachlassen in der Musik, also Spannung und Entspannung, besondere Momente
- Rhythmusgefühl, Gespühr für Auftakte, Punktierung, Schwerpunkte, Puls
- die Fähgkeit, Stimmungen in der Musik zu erfassen
- ein gutes Gehör und damit Sinn für unterschiedliche Klangcharaktere

... ok es ist ein Fass ohne Boden, je nachdem, was man alles einzeln aufzählen will, gehört da noch so einiges rein.
Zum Klavierspielen freilich brauchts noch viel mehr, sowas wie Interesse (!), Fleiß, Ausdauer Geduld, gegebene Anatomie, Gehörschulung, Theoriewissen, Übetechnik.

Und natürlich: einen guten Lehrer. Die größte Begabung hilft selten, wenn sie nicht entfacht und in richtigem Maße gefördert wird.
Eine Musikalität kann vorhanden sein, doch ohne Wissen ist sie quasi eher rudimentär und "vorhanden". Mit einem ungeschulten Gehör können keine differenzierten Gestaltungsüberlegungen entstehen. Je genauer man hört und versteht, desto detailreicher wird die Vorstellung und desto höher der "beurteilte Grad an Musikalität".

Im Klartext heißt das: Gehörbildung, Musikalität und Spieltechnik bedingen sich gegenseitig und schaukeln sich gegenseitig hoch.
Um differenziertere Klänge zu produzieren, muss man sie hören; wer besser hört, kann genauer spielen; wer genauer spielen will, der probiert es so lange, bis er das gewünschte Ergebnis gehört / gespielt hat => er ist technisch gewachsen.

Guter Beitrag. Ich würde gerne noch einen Gedanken äußern, der mir dazu kam. Und zwar ging mir der Begriff der "reifen Interpretation" durch den Kopf, den man oft mit im Alter schon weit fortgeschrittenen Pianisten in Verbindung bringt (analog dazu spricht man auch beim Spätwerk vieler Komponisten gern von "reifen Werken"). Mir geht es so, dass Stücke, die mich über das "Normale" hinaus sehr berühren, oft von Pianisten gespielt werden, die sehr viel Lebenserfahrung besitzen. Wieviel macht also diese Lebenserfahrung aus, um eine wirklich berührende Interpretation zu schaffen?

Man kann schon früh sehr gut hören lernen (differenziertes Hören auf mehreren Ebenen) und auch ein gutes Gespür für musikalische Phrasen, Stimmungen, Puls usw. entwickeln. Daraus können sich bereits sehr gute Interpretationen ergeben. Aber es muss dann noch etwas hinzukommen. Und in diesem Zusammenhang finde ich den Begriff des Bewusstseins passend (auch wenn er abgegriffen ist).

Meiner Meinung nach braucht es ein gefühltes Bewusstsein davon, was Menschsein bedeutet. So etwas entwickelt sich bei Menschen, die dafür sensibel sind (und nicht davor weglaufen wie die meisten Menschen in unserer Kultur), über das ganze Leben hinweg und schlägt sich vor allem in der Ausübung von Kunst nieder. Oder umgekehrt: das erlebte und gefühlte Wissen von den Abgründen, Zerrissenheiten, aufwühlenden Kräften, Sehnsüchten usw., die es in uns nun mal gibt, erzeugt überhaupt erst das übermächtige Bedürfnis nach Kunst.

Für eine berührende Interpretation braucht es immer zwei mit Sensibilität für die inneren Zerrissenheiten und Potentiale. Der Pianist muss mit seinen Innenwelten in Verbindung stehen, aber auch der Hörer. Wenn Horowitz in Moskau spielt, kann sich jemand, der vor sich selbst davonrennt (sich also selbst auf der Ignorierliste hat), nicht berührt fühlen. Denn um sich berührt fühlen zu können, muss man das Ungreifbare in sich zulassen können. Hierin sehe ich neben den von Stilblüte genannten Punkten die wichtigste Aufgabe bei der Entwicklung der eigenen Musikalität.

Den Begriff der Lebenserfahrung kann man dabei ganz vielschichtig verstehen. Lebenserfahrung bildet sich vor allem durch schmerzhafte Erlebnisse, an denen man lernt und über die man sich kennenlernt. Aber bei manchen Menschen hat man das Gefühl, dass sie schon mit so viel Schmerz auf die Welt kommen, dass sie gar nicht anders können, als schon in jungen Jahren "reif" zu sein.

Grüße von
Fips
 
...und irgendwie habe ich den leisen Verdacht, dass hier durch den allgemeineren Begriff der Musikalität der vielen lästige Begriff des musikalischen Talents, der Begabung ersetzt werden soll... das wird (leider) nicht funktionieren.
Auf keinen Fall will das jemand!
Musikalität=angeborene musikalische Begabung=Talent.
Wie jedes Talent so ist auch das musikalische Talent normalverteilt mit einem Mittelwert und einer gegebenen Streuung. Als Talent sollte man man den oberen Bereich der 2-3 fachen Standardabweichung nennen, alles, was ausgeprägter ist als die vierfache Standardabweichung könnte man umgangssprachlich dann als "genial" bezeichnen. "Talent und Genie sind aber niemals ausreichend für eine erfolgreiche Lebensgestaltung. Die Welt ist voller gescheiterter Talente. Zum Erfolg braucht es Ausdauer." (Habe ich kürzlich sinngemäß in einem Ratgeberbuch gelesen; hilft aber auch nicht unbedingt weiter). Denn, ich zitiere mich selbst, "fehlende Ausdauer ist ein Segen, wenn man sonst dauerhaft das Falsche täte".
 
Hi rolf,

zuerstmal, ich will dich nicht von irgendetwas überzeugen. Es gibt mM immer verschiedene Wahrheiten oder Sichten. Jeder Mensch bildet die echte Umwelt in seinen Gedanken ab und hat dadurch unterschiedliche Modelle, Sichtweisen und Theorien der echten Welt.

angenommen, du wüsstest vom Kochen nur, dass man salzen und pfeffern sollte, und nun trainierst du vehement und voller Überzeugung das salzen und danach das pfeffern - kannst du dann deswegen plötzlich kochen, weil kochen nur aus der Summe von pfeffern und salzen besteht?...
Du hast immer witzige hinkende Vergleiche. ;-)

Es geht doch nicht um einen Vorgang bei dem man eine Rezeptur mehr oder minder schlecht erfüllt, es geht um den Prozess, dass man Fähigkeiten erlernt und bildet.
Fähigkeiten wie Rhythmusgefühl oder Gehör haben jeweils ihre eigene Qualität und Güte anhand dessen ich meinen Fortschritt bzgl. dieser Einzel-Fähigkeit feststellen kann.

Ich meinte mit mir nicht bekannten Proportionalitäten nur, wie gut ist meine Musikalität wenn zB mein Rhythmusgefühl eine bestimmte Qualität hat. Bestimmt das Rhythmusgefühl die Musikalität zB zu 50% (könnte ja vielleicht stimmen ;-) ). Diese Werte sind mir nicht genau bekannt (wahrscheinlich sind sie auch nicht konstant und noch von anderen Dingen abhängig).
Natürlich habe ich ein grobes Bild der Aufteilung, wenn man zB die Liste von Stilblüte nimmt. Aber es wäre halt sehr interessant, wenn man es genauer wüsste.

Gruß
 
Es geht doch nicht um einen Vorgang bei dem man eine Rezeptur mehr oder minder schlecht erfüllt, es geht um den Prozess, dass man Fähigkeiten erlernt und bildet.
bedauerlicherweise wird das nüscht, wenn man nicht versteht/begreift, was man macht und warum genau so und nicht anders - - und nebenbei: Musikalität bedeutet nicht, Fähigkeiten zu erlernen
 

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