Klavier und Emotionen - eine ungewöhnliche Frage

Marlene

Marlene

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4. Aug. 2011
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Hallo,

bevor ich zum Kern meiner Frage komme muss ich ein wenig ausholen.

Im Winter 2010 habe ich mir ein Keyboard gekauft, weil ich schon lange den Wunsch hatte es spielen zu können, bisher aber wegen allerlei Umstände nicht den Nerv und die Zeit dazu hatte es spielen zu lernen. Seit Mitte März nehme ich halbstündige Klavierstunden. Vor einigen Monaten konnte ich plötzlich Lieder nicht mehr spielen, die ich vorher beherrscht habe, ich nenne das eine Spielblockade. Seit Wochen verwöhnt Arte die Klavierliebhaber mit Konzerten und während ich diese angesehen und gehört habe hat sich ein seltsames Gefühl in mir aufgebaut. Plötzlich ist mir eingefallen, dass ich als Kind Klavier spielen lernen wollte, meine Eltern mir das aber mit den Worten „ein Klavier ist ein akustisches Folterinstrument“ ausgeredet haben. Sie haben es mit Erfolg geschafft mich Jahrzehnte lang ein Klavier ignorieren oder sogar hassen zu lassen. Aber als ich dann die Klavierkonzerte bei Arte und das 5. von Beethoven live erlebt habe hat sich in mir etwas grundlegend geändert.

Ich halte es mit der Devise: Entweder richtig oder gar nicht. Keyboard ist zwar nicht „gar nicht“ aber auch nicht „richtig“. Wegen meiner Spielblockade habe ich vor sechs Wochen meinem Klavierlehrer mitgeteilt, dass ich es mal mit dem Klavier probieren möchte. Als er die Tastenklappe geöffnet hat, ich auf die 88 Tasten geblickt habe und meine Hände über diese gleiten ließ, war das ein Gefühl wie... nun ja, es war Begehren. Ein Gefühl als würde ich einen Mann begehren. Ich war erstaunt über diese Gefühl und fasziniert von dem Klavier. Vor vier Wochen habe ich mir ein Digital-Piano gekauft. Eine gewisse Bestätigung dieses mich nachdenklich stimmenden Gefühls habe ich vorige Woche in einer Dokumentation über Edita Gruberova gehört in der Joachim Kaiser gesagt hat, ihre Stimme habe etwas mit dem Unterleib zu tun, es sei Erotik. Erotik und Musik. Erotik und ein Klavier?

Nun zu meiner Frage. Wenn ich die Finger der Pianisten und Pianistinnen sehe und deren emotionalen Körpereinsatz, dann kommt es mir vor, als würden die Pianisten Liebe machen mit dem Flügel. Ich finde den Klang des Klavieres und das Spiel der Pianisten anregend und erregend.

Und nun würde ich gerne von euch wissen: Bin ich bescheuert oder empfindet ihr das ebenso?

LG,
Marlene
 
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Mir geht es allgemein darum zu erfahren, ob ich mit meinen Empfindungen alleine auf weiter Flur bin oder es vielleicht "normal" ist. Ich bin nämlich ein wenig verwirrt ob meiner Emotionen in Bezug auf das Instrument und seine zugehörigen Virtuosen.

Vielleicht bin ich ja emotional leidenschaftlicher als der Durchschnitt, das würde ich eben gerne wissen. Vor einigen Wochen hat Arte ein Konzert gesendet wo sechs Flügel auf der Bühne standen, Blick von oben, Blick auf sechs glänzende Gussstahlrahmen. Dann kamen zwölf Pianisten und haben das Vorspiel zu "Die Meistersinger von Nürnberg" gespielt. Es hat mich fast vom Sessel gehauen und ich war so aufgewühlt, dass mich das Stück zu Tränen gerührt hat. Soweit zu meinen Emotionen.

Es ist eine seltsame Frage, ich weiß, und ich habe eine Weile überlegt, ob ich sie stellen sollte. Aber ich denke ein solches Forum ist auch für solche Dinge da.
 
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Marlene,

das ist doch wunderbar, dass du etwas gefunden hast, das dich fasziniert und entzückt und dich entflammen lässt. Jetzt stürze dich kopfüber rein und spiele und übe, soviel du irgend kannst. Und blicke immer wieder kritisch über den Tellerrand, ob du bei deinem Lehrer gut aufgehoben bist. Los geht's!

Zu deiner eigentlichen Frage: Ein weites Feld. Da wirst du 1000 unterschiedliche Antworten erhalten. Von "erotische Faszination" über "Projektion" bis zu "Arbeitsplatz". Kann ich alles nachvollziehen. Meine Flügel sind für mich "der richtige Platz", Ausdrucksmittel und Familienmitglieder.
 
ob du bei deinem Lehrer gut aufgehoben bist

Er hat über ein halbes Jahrhundert Erfahrung und ich fühle mich bei ihm gut aufgehoben. Er fordert mich und stachelt meinen Ehrgeiz an. Das finde ich gut so.

Meine Flügel sind für mich "der richtige Platz"

Wouw, mehrere? Wie viele sind es denn?

Von den sechs Flügeln war ich auch deshalb so begeistert, weil ich noch nie zuvor in einen Flügel geschaut habe und mir (weil mir das Instrument ja madig geredet wurde) auch nicht vorstellen konnte, was außer Hämmern und Saiten dort drin ist. Das Innenleben der Flügel hat mich mächtig beeindruckt und meinen iMac ziert ein Flügel ohne Deckel aus der Vogelperspektive. Ich kann mich nicht sattsehen an diesem Anblick.

Nennt man die große Abdeckung wirklich "Deckel" oder gibt es da einen Spezialausdruck?
 
Nennt man die große Abdeckung wirklich "Deckel" oder gibt es da einen Spezialausdruck?

Liebe Marlene,

ja, die nennt man wirklich ganz profan "Deckel"! :p

Ich finde deinen Eingangspost sehr berührend und schön!!! Und überhaupt nicht bescheuert!!! :)

Was jetzt die Erotik angeht, muss ich sagen, dass "Liebe machen" bei mir doch noch etwas anders aussieht! :D

Aber Klavier spielen ist trotzdem ein absolut sinnliches Erlebnis. Mit den Fingerkuppen und dem Arm wunderschöne Klänge hervorzaubern zu können, diese Klänge mit den Ohren zu genießen, ist wunderbar!

An Erotik denke ich also nicht, aber sinnlich im wörtlichen Sinne ist es schon. :)

Liebe Grüße

chiarina
 
chiarina, deine Antwort finde ich sehr schön. Ja, sinnlich ist wohl der richtige Ausdruck dafür. "Liebe machen" sieht bei mir auch anders aus ;). Aber wenn ich da an eine spezielle Szene in "Pretty Woman" denke - das hat was! Aber das hat ja nichts mit dem Klavier spielen zu tun...

In meinem Eingangspost hat sich ein Fehler eingeschlichen. Ich habe nicht halbstündige Klavierstunden genommen, sondern hatte Keyboardunterricht. Nach den Ferien möchte ich, dass mein Lehrer mir das Klavier spielen beibringt.
 
Schau mal in YouTube Hélène Grimaud beim Klavierspielen zu :D
Oder Lola Astanova...
 
etwas trauriger Start,schlimm die Episode mit den Eltern,Gottseidank gibt es heute Digis! Ich hätte so was auch gebraucht,bekam als Kind auch "Klavierverbot" weil ich meine Mutter 5 Stunden täglich in dieser Weise gefoltert habe,gewisse Stücke (z.B.Chopin g Moll ballade) wurden auf Lebzeiten verboten,da zuviel geübt.Ein Grund vielleicht,warum ich neben meinem Flügel ein digi besitze,auf dem ich ohne jemanden zu nerven Passagen,Sprünge etc.üben kann,Kindheitstraumata sitzen halt tief.

Deine Spielblockade kann da schon solche psychologische Ursachen haben.

Schön dass du sie scheinbar gelöst hast.

Zum anderen Teil deines posts,naja in Anna Enquists wunderschönem Roman "Kontrapunkt" schreibt sie,dass es fast zu intim ist,Glenn Gould beim Spielen der Var.Nr.25 der Goldbergvariationen zuzusehen,fast peinlich,da es wirkt wie ein Liebesakt zwischen Gould und dem Instrument....
Auf diesen Gedanken wäre ich allerdings nie gekommen.

Andererseits gibt es natürlich z.B.in Liszts Mephisto Walzer "Programmmusik",die schon sehr deutlich eine mehr als erotische Szene darstellt(Liebesszene zwischen Faust und einer Tänzerin im Wald mit Nachtigallen und zeitweise Mephistos Geigenmotiv während die beiden zur Sache kommen)(auch wenn ich die Wikipedia Beschreibung des Werkes etwas plakativ finde.)
 
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Ja, und leider ist das nicht das einzige. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht sehr gündlich. Vielleicht ist die Auflösung des Kindheitstraumas Klavier der Grund für meine jetzt überbordenden Emotionen – ich habe so viel verpasst: Klavier spielen, Klaviermusik hören. Ich bin deshalb auch wütend auf meine Eltern weil sie mir Jahrzehnte der akustischen Freuden vorenthalten haben. Irgendwo im Internet habe ich allerdings gelesen, dass es Unsinn ist wenn ein Erwachsener, und dann noch einer, der – wie ich - das halbe Jahrhundert gerade überschritten hat, Klavier spielen lernt. Ich aber denke: Es ist nie zu spät um etwas hinzu zu lernen.

Schau mal in YouTube Hélène Grimaud beim Klavierspielen zu. Oder Lola Astanova...

Wie diese beiden Damen Klavier spielen... das sieht doch nun wirklich erotisch aus. Da müssten ja speziell die männlichen Klavierliebhaber meine Emotionen teilen ;).

da es wirkt wie ein Liebesakt zwischen Gould und dem Instrument....
Auf diesen Gedanken wäre ich allerdings nie gekommen.

Schade, bei YouTube nichts gefunden was man sehen kann (GEMA).

Aber als ich mal Evgeny Kissin Chopin habe spielen sehen, kam mir schnell der Gedanke, dass es aussieht, als würde er Liebe machen mit dem Flügel. Er hat sehr gefühlvoll gespielt.

Liszt's Mephisto-Walzer Nr. 1 kannte ich nicht. Habe ihn mir bei YouTube angehört. Mein Beitrag hat noch einen schönen Nebeneffekt: Ich lerne etwas dazu – und ich lerne gerne neues hinzu. Den Roman von Anna Enquiest kannte ich auch nicht.
 
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Hallo Hasenbein,

danke für den Link. Es hat den Anschein, als sei der Mann vor dem Konzert in einen Ameisenhaufen gefallen... Sinnlich finde ich sein Spiel nicht.

LG,
Marlene
 
"Der Mann" (der Mann ist nicht irgendeiner, sondern einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart und sicherlich der bedeutendste Klavier-Improvisator, den wir haben) spielt auch keineswegs mit irgendeiner Absicht, "sinnlich" zu wirken oder zuhörende / zuschauende Frauen zu beeindrucken :D Dafür haben wir ja bereits Richard Clayderman, Yann Tiersen oder Maksim :D

Ihm geht es stets nur um die Musik, und seine gewöhnungsbedürftige Bewegerei und Stöhnerei entsteht einfach spontan und unkontrolliert, weil er total in der Musik aufgeht und im "Flow" ist.

Was er hier im übrigen spielt, um mal auf Deinen "Ameisenhaufen" einzugehen, ist sicherlich nichts für massenmedienkonditionierte "Einsteiger"-Hörer, man muß sich schon in Ruhe darauf einlassen wie auf alle künstlerisch hochstehende Musik aus z.B. dem Klassik- oder Jazzbereich.

Das Beispiel habe ich nur deshalb verlinkt, weil ich beim Thema des Threads schmunzelnd daran denken mußte :cool:

LG,
Hasenbein
 

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