gibt es überhaupt "Komponistinnen"?

@Revenge

Bitte nat. zu beachten, dass das Dokument keine Doktorarbeit ist, sondern evtl. nur eine Hausarbeit.

Wenn das eine Dissertation oder ein ernsthafter wissenschaftlicher Artikel wäre, müsste sich jeder aufhängen oder still ins Wasser gehen, der je eine Dissertation verfasst oder wissenschaftlich mit einem Thema gerungen hat. ;-)

In Wahrheit geht es um Stereotype. Ausdrückliche Intention: Es wird ein Stück entlang stereotypischer Zuschreibungen abgecheckt.

These traits have been considered feminine since the Romantic period, when artists “were thought to be different from other men precisely because they incorporated 'feminine' imagination with 'masculine' reason, madness with craft.”

Es geht also darum, ob ein Mensch des frühen/mittleren 19. Jh. Gründe haben könnte, vor dem Hintergrund seines (unterstellten [und wahrscheinlich auch tatsächlichen]) durchschnittlichen Weltbilds Chopins Musik, exemplifiziert an der Polonaise-Fantaisie, als "feminin" empfinden konnte. Nein, eigentlich schlimmer, denn "effeminé" ist natürlich etwas Schreckliches, eine Beleidigung für den "echten Mann".


Dieser soziokulturelle historische Hintergrund wirkt bei Einigen bis heute. Mentalitäten wandeln sich unter allen Wandlungen am allerlangsamsten. :-( Und es macht offenbar immer noch großen Spaß zu kategorisieren.

Trotzdem (bzw. gerade deshalb) ist der von Dir verlinkte Text ein bitteres Beispiel dafür, wie Zuschreibungen funktionierten (teilweise immer noch funktionieren) und was es Frauen in früheren Zeiten (gesellschaftsabhängig bis heute) erschwert bzw verunmöglicht hat, ihren Weg zu gehen.

Ich bin nach wie vor sicher, dass ein fiktiver gutbürgerlicher Vater es reizend und schick fand, wenn das Töchterlein "zierlich" (wie man damals zu sagen pflegte) klavierspielte und womöglich ein "bisschen komponierte", aber die zentrale Aufgabe des Töchterleins war keine Karriere (egal welche), sondern eine möglichst gute Partie zu finden und (männliche) Stammhalter in die Welt zu setzen. Etwas anderes stand halt nicht zur Debatte.

Mir ist eine solche Familie aus dem späten 18. Jh. bekannt, da durfte die älteste Tochter bei einem damals bekannten Maler Malerei studieren und die dritte bekam Unterricht auf dem damals futuristischen hauseigenen Pianoforte. Von beiden heißt es, sie hätten "Talent gehabt". In diesem Haus gaben sich die kulturellen und politischen Größen der damaligen Gegenwart die Türe in die Hand, darunter Jacques-Louis David und ein Pianist, den man als den "zweiten Paisiello" bezeichnete. Trotzdem wäre es beiden Frauen nie in den Sinn gekommen, eine künstlerische Karriere anzustreben.

Der Sohn lernte Violine, natürlich auch ohne Karriereambitionen. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmekünstlern war Kunst doch ein wenig angesehener, leicht anrüchiger und auf jeden Fall brotloser, heikler Lebensentwurf. Schauspieler (weibliche vor allem) beispielsweise standen auf einer Stufe mit Prostituierten. Warum? Weil sie AUFTRATEN. Sich von fremden Augen anglotzen ließen. Nicht sittsam Haushalt und Kinder hüteten.

Kein Mensch weiß, was "züchtige Hausfrauen" mehr oder weniger ohne Anleitung vor sich hin komponiert haben. Das wurde vielleicht im familiären Salon zu Gehör gebracht. Punctum. Es war für Frauen nicht üblich, in Europa herumzureisen und in Wien den einen und in Berlin den anderen und in London den dritten großen Künstler kennenzulernen und von ihm zu lernen. Der gesellschaftlich vorgegebene Lebensentwurf war ein anderer.

Ich habe viele Mémoires und politische Memoranden von Frauen gelesen, die eine Kindheit/Jugend im 18. Jh. erlebten. Das 18. Jh. war in vielerlei Hinsicht freier und "cooler" als die reaktionäre Zeit nach dem Wiener Kongress. Die Frauen, die "Erinnerungen" (oder Memoranden zur Verbesserung der Mädchenerziehung) schrieben, gehören samt und sonders zur aufgeklärten französischen Oberschicht und sind kein bisschen repräsentativ. Man sollte wirklich ein paar dieser Zeitzeugnisse lesen, um zu verstehen, mit welchen absurden Doxa damals gekämpft werden musste, um als intellektuelle Wesen anerkannt zu werden.

Alsdann darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es eine Manie zur "Wissenschaftlichkeit" und zum Kategorisieren gab. Da wurde schlicht alles irgendwie kategorisiert und systematisiert. Also auch "das Menschengeschlecht", und ruckzuck gebar die Mainstream-Aufklärung auch Rassismus und Sexismus unter dem Label der Wissenschaftlichkeit. Selbst große Denker waren dagegen nicht gefeiht.

Es gab zwar einzelne Denker im 18. Jh., die jegliche Bewertungen von Menschen nach Geschlecht und "Rassetypus" verneinten und sich auch öffentlich dagegen positionierten, aber das waren so neue und kühne Gedanken wie die Homoehe in den 60ern gewesen wäre. Man schaue und staune, wie lange es dauerte, bis Schwarze und Frauen das Wahlrecht erkämpfen konnten!


Wissenschaft und Gesellschaft irren sich empor. Es dauert jedesmal Jahrhunderte, bis überkommene Denkungsarten aus den Hinterköpfen verschwinden. :konfus:
 
Morgääähn @Barratt :-)

Jaja, die Hannah - natürlich hangelt sie sich auf einem schmalen Grat entlang. Aber sie sagt ja, dass

Zitat von Hannah:
[...]
First, the question must be addressed: can music express gender? Musicologists such as Solie
and McClary have already examined this issue in depth, but the short answer is that music has been
described or defined in masculine/feminine dualties since the 18th century, when Rousseau labeled the
melismatic Old Roman plainchant “effeminate and theatrical,” favoring instead the more restricted
(and, it is implied, more masculine) Gregorian style.

His contemporary, theorist Georg Andreas Sorge, also made a gendered distinction between major and minor triads, relating the former to the male, “splendid and perfect,” and the latter to the female, “not as complete as the first, but also lovely and pleasant to hear.”

In both instances, feminine is associated with lyricism, excess, weakness, and incompleteness, while
masculine equates to clarity, order, strength, and wholeness. Perhaps then the
initial question should be reworded. In their descriptions of what constitutes masculine versus feminine music, Rousseau and Sorge create a rather limited model of gender which allows f
or no convergence between dual characteristics. Evidently music can construct gender to a certain extent, in that it either reinforces or challenges dominant ideas on the subject.
If one were to group composers according to these dualities, it would seem that Chopin belongs
in the feminine category.

Jedenfalls wissen wir jetzt: Chopin war manchmal eine Frau! :-D:girl::-D:lol:

Zitat:

[...]George Sand, the cross-dressing feminist author whose sharp intellect and cigar
habit caused some critics to question whether she wasn't actually a man–perhaps also insinuating that Chopin, who taught piano lessons and had a frail constitution, was the woman in their relationship.[...]

Zitat Ende.

Allerdings weist TATSÄCHLICH, so meine Meinung, die Polonaise-Fantaisie zumindest große Kontraste auf. Auch behandelt z.B. das Buch "Frederic Chopin" aus der Reihe "Musik-Konzepte" beispielsweise einen Vergleich der Gewichtung / Rhythmisierung der allerersten Noten der A-Dur-Polonaise und der ersten Noten des Pol.-Fant.: Die Gewichtung wird ( in etwa ) als "umgekehrt" dargestellt, und wenn man der männlichen, militärischen A-Dur-Polonaise gewisse Charakteristika zuschreiben würde - und man dann das Gegenteil vorfände, da könnten manche zu Schlüssen verleitet werden.

Ansonsten: Klar holen die Damen edit : von heute bei solchen Annahmen die Fackeln hervor, Barratt. :-) Aber - das macht die Sache doch spannend, findet,

mit herzlichen Grüßen,

Olli!!
 
@Revenge, das sollte keine Kritik sein. Der Erkenntnisgehalt solcher Epitheta wie "männlich"/"weiblich" mit Bezug auf etwas anderes als konkrete Lebewesen ist halt denkbar gering bzw. reproduziert Stereotypien des 19. Jh., die man in anderen Zusammenhängen auch nicht mehr heranziehen würde (z. B. Juden, Schwarze).
 
Ich glaube, dass es besser hierein passt, als den ...Thread...

https://www.carnegiehall.org/Calend...orward-A-Celebration-of-Women-in-Music-0200PM

Sunday, February 24, 2019 2 PM
Weill Recital Hall
Performers
Amaranta Viera, Soprano
Kevin Deas, Bass-Baritone
Bora Yoon, Vocals and Electronics
Danny Kim, Viola
Pedro da Silva, Portuguese Guitar
Lucia Caruso, Piano
Taisiya Pushkar, Piano
Anna Shelest, Piano
Guest Artist: Emily Bear, Piano
Program
Works by Lucia Caruso, Korine Fujiwara, Fanny Mendelssohn, Dobrinka Tabakova, and Bora Yoon
https://en.wikipedia.org/wiki/Dobrinka_Tabakova
http://www.luciacaruso.com/bio/
http://korinefujiwara.com/
https://en.wikipedia.org/wiki/Bora_Yoon

Wer also in NY zum Zeitpunkt ist, ...

Wieso diese Auswahl, entzieht sich meiner Kenntnis....
 
Zuletzt bearbeitet:
Bora Yoon kenne ich, die macht völlig abgefahrene und durchgeknallte Sachen. Super!
 
...und dann gab es auch früher Damen, die sich propagandistisch engagieren. Es muss nicht immer Chopin sein, liebe Foristen. :026::
 

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  • GodSaveAmerica.pdf
    476,9 KB · Aufrufe: 21
Ich hörte einmal im Radio ein Klavierstück, das ich nicht einordnen konnte. Es war eindeutig eine Komposition, der Romantik, aber für Schumann zuviel Salon, durchaus jedoch ähnlich.
Als das Stück zu Ende war, wurde das Rätsel nicht aufgelöst. Da mir das keine Ruhe ließ, weil ich an dem Stück gefallen hatte, habe ich beim WDR angerufen und erfuhr, das es von Cécile Chaminade war und Automne (Herbst) heißt. Ich habe mir die Noten gekauft und es geübt, allerdings nach dem langsamen Satz meine Grenzen erkannt.
Anhören, es lohnt!
 
Zuletzt bearbeitet:
Von dieser Komponistin habe ich heute Morgen (durch Zufall, in swr 2) zum ersten Mal gehört. Leider nur kurz, es reichte gerade für das Ende ihres Klavierkonzertes und den Anfang der Lieder.

https://de.wikipedia.org/wiki/Amy_Beach

Interessant fand ich, dass ihre Mutter wirklich alles daran gesetzt hat, um sie auszubremsen. Ihr Lebensweg klang nicht eben vergnüglich.
 

Interessant fand ich, dass ihre Mutter wirklich alles daran gesetzt hat, um sie auszubremsen. Ihr Lebensweg klang nicht eben vergnüglich.

Die gesamte Gesellschaft hat Frauen diesbezüglich ausgebremst (einschließlich der implantierten Schere im eigenen Kopf). Nicht nur hinsichtlich Kunst/Musik. Eine der letzten Bastionen war der Sport. Noch in meiner Kindheit gab es laute (männliche) Stimmen, die Frauen/Mädchen von Sport von abrieten, weil er der Gebärfähigkeit schade (Gebärfähigkeit = einzige nolens volens zugebilligte weibliche Zentraleigenschaft, damals galten auch im BGB noch absurde, verfassungswidrige Regelungen). Die ersten Teilnehmerinnen an Cityläufen wurden noch zusammengeschlagen.

Jahrtausendelang schreckte Mann vor keiner Absurdität zurück, um sich die Hälfte der Menschheit als potenzielle Konkurrenz vom Leibe, zur Triebabfuhr und als Dienstboten zu halten.

Das hat sich in weiten Teilen dieses Planeten bis heute nicht geändert. Und sogar dort, wo man glaubte, es habe sich geändert, müssen plötzlich wieder groteske "Kämpfe" ausgefochten werden. Wir erleben derzeit live mehrere parallel, besonders ungeschminkt geht mal wieder um den 218er unter dem Deckmantel des 219er.

Die Frage nach "Komponistinnen" vor pi mal Daumen 1980 geht kilometerweit an der historischen Realität vorbei.
 
Die gesamte Gesellschaft hat Frauen diesbezüglich ausgebremst (einschließlich der implantierten Schere im eigenen Kopf). Nicht nur hinsichtlich Kunst/Musik. Eine der letzten Bastionen war der Sport. Noch in meiner Kindheit gab es laute (männliche) Stimmen, die Frauen/Mädchen von Sport von abrieten, weil er der Gebärfähigkeit schade (Gebärfähigkeit = einzige nolens volens zugebilligte weibliche Zentraleigenschaft, damals galten auch im BGB noch absurde, verfassungswidrige Regelungen). Die ersten Teilnehmerinnen an Cityläufen wurden noch zusammengeschlagen.

Jahrtausendelang schreckte Mann vor keiner Absurdität zurück, um sich die Hälfte der Menschheit als potenzielle Konkurrenz vom Leibe, zur Triebabfuhr und als Dienstboten zu halten.

Das hat sich in weiten Teilen dieses Planeten bis heute nicht geändert. Und sogar dort, wo man glaubte, es habe sich geändert, müssen plötzlich wieder groteske "Kämpfe" ausgefochten werden. Wir erleben derzeit live mehrere parallel, besonders ungeschminkt geht mal wieder um den 218er unter dem Deckmantel des 219er.

Die Frage nach "Komponistinnen" vor pi mal Daumen 1980 geht kilometerweit an der historischen Realität vorbei.

Schon klar.

Was ich aber speziell bei Amy Beach extrem fand, ist z.B. die Tatsache, dass ihre Mutter (!) einen Ehevertrag forderte, in dem festgelegt wurde, dass sie nicht auftreten sollte.
Die Sendung scheint nicht online zu sein, falls doch (noch), verlinke ich sie mal.
 
Sofia Gubaidulina

hat ein sehr umfangreiches und vielfältiges Werk geschaffen.

[...]

@Rohrdommel : Da fällt mir was zu ein! :-)

..von dem sie, noch zu meiner Praktikumszeit, einige ( so 1000 Seiten etwa ) handgeschriebene Sachen ( gegen ENTGELT, dazu gleich ) der STABI Hannover überantwortet hat.

Meine CHEFausbilderin, meine Mitpraktikantin und ich sollten den Wert taxieren ( wir wussten aber vorher, dass noch Herr Prof. Katzenberger, von der Musikhochschule, sein Votum persönlich abgeben würde...

...und tatsächlich war er eines Tages da, um die bereits von uns ( bzw. mir ) auf "500 Euro, aber keinen cent mehr!!!" ) taxierten Noten erneut ( relevant ) zu taxieren.

Ich muss natürlich zugeben, dass ich Dissonanzen nicht so mag, daher sank MEIN ( !! ) persönlicher "Preis" von Note zu Note, obgleich diese sehr exakt und genau aufgemalt waren!!!

Naja, Prof. Katzenberger gestand 1500.- zu.... ;-);-) - ich traf ihn später auf einer Feierlichkeit nochmal, -

was lernt der Musikbibliothekar-Praktikant daraus???

- Vertraut ihm, dann gebt Ihr nicht so viel aus!!! - :-D:-D:-D:drink::drink:

LG, Olli / Rev.-

PS.: Wo sind eigtl. HEUTE die vermachten Noten??? Na ich denke, die sind schon weitergegeben worden.

LG erneut, Olli.:-):drink:
 
Ich komponiere ebenfalls - und das als Frau. So ungewöhnlich ist das also nicht.
Dennoch bin ich vorsichtig und komponiere vorerst nur Jazz-Stücke.
 
Wie "ernstzunehmen" Userin "Shimpay" ist, ist folgendem Zitat zu entnehmen:
So, wie ich mich und die anderen ForenteilnehmerInnen einschätze, wäre ich eine sehr gute Klavierlehrerin, möglicherweise sogar die beste Klavierlehrerin mindestens in diesem Forum geworden. Ich hatte allerdings wenig Zeit, war lieber oft draußen spielen - und reiche Eltern hatte ich ebenfalls nicht. Ich habe mich dann entschlossen, meine Ansprüche zu senken und mich auf Jazz zu konzentrieren... Klappt ganz gut.
Hier haben wir es also entweder mit einer merkbefreiten Person zu tun oder mit einem Troll.
 
Hier haben wir es also entweder mit einer merkbefreiten Person zu tun oder mit einem Troll.

Von wegen Troll...mein lieber Jazz-Kollege, ich weiß nicht, wie gut deine musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten in der Realität sind. Aber auf Grund deiner Beiträge, die ich bislang hier gelesen habe, musst Du ein ebensolcher Überflieger sein wie ich. Ich bin stolz darauf, dass ich dich hier zumindest virtuell kennen gelernt habe. Ich freue mich schon darauf, das eine oder andere Stück von dir live zu hören, wenn mal wieder ein Treffen der Forumsmitglieder stattfindet. Die anderen hatten ja schon bestimmt die eine oder andere Gelegenheit dazu. Ich kann es kaum erwarten. Vielleicht spielen wir auch zusammen etwas?
 

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