Chopin - Prélude Nr. 18 in f-Moll
Also, da im Chat beim Prélude Nr. 18 schon munter drauflos analysiert wurde, hat sich die Frage, welches als nächstes drankommt, wohl erübrigt. Nr. 24 und Nr. 17 werden auf später verschoben. Ich will nun hiermit ein erstes Ergebnis meiner Analyse vorlegen und bin sehr gespannt auf die Reaktionen bzw. die Sichtweisen der anderen. Warnung: ziemlich langer Text!
Das Prélude Nr. 18 in f-Moll ist meiner Meinung nach eines der anarchischsten und im wahrsten Sinne des Wortes spannendsten Klavierstücke der Romantik. In der Harmonik steckt maximale Spannung, die sich erst im letzten Akkord löst. In der Melodik herrscht ein ruheloses Auf- und Ab- und Hin- und Hergewoge. Eigentlich gibt es in diesem Stück keine Melodik, sondern nur sich durch schnelle Läufe vollziehende „Schwünge“ zur jeweils nächsten Harmonie. Strukturell drängen sich die Harmonien immer mehr zusammen, d.h. die Häufigkeit der Harmoniewechsel steigert sich und erzeugt so ein Gefühl des Drängens bis zum Spannungshöhepunkt, der sich in den Schluss hinein entlädt.
Das ganze Stück basiert auf einer großen dominantischen Spannungskurve, die gleich zu Beginn sehr markant mit einem Dominant-Sept-Non-Akkord in C-Dur eingeleitet wird (T. 1). Die Tonika kommt zunächst überhaupt nicht vor. Das Spannungsmoment des Beginns wird durch zwei Merkmale hervorgehoben: erstens durch das Non-Intervall in der linken Hand und zweitens durch den Quartvorhalt in der rechten Hand.
Die Töne des C-Dur-Dominant-Sept-Non-Akkords finden sich dann in dem folgenden Lauf wieder, der motivisch zunächst das Eingangsmotiv fortsetzt und sequenziert. Die akkordeigenen Töne (die ich rot eingekringelt habe) werden von zusätzlichen Tönen „umlagert“. Teilweise bestehen sie aus den beiden benachbarten Halbtönen: in T. 3 z.B. gehen dem e' die benachbarten Töne f' und dis' voraus; ebenso dem g' die Töne as' und fis'. Der gesamte Lauf endet jedoch nicht in der Auflösung zur Tonika, sondern mündet direkt in die nächste Dominant-Spannung. (Ich habe mich übrigens bei den Läufen auf die Bezeichnung und Betrachtung der rechten Hand beschränkt, wenn sie oktaviert gespielt werden.)
Der Anfang des Stücks wiederholt sich sinngemäß in F-Dur (T. 5) und nach einem erneuten Lauf mit akkordeigenen (rot eingekringelt) und zusätzlichen Tönen kommt es zu einem ersten Anflug einer Spannungslösung. Der F-Dur-Sept-Non-Akkord löst sich in dem b-Moll-Akkord in T. 9 auf. Funktionsharmonisch ist das die Subdominante. Durch die Sixte-ajoutée kommt jedoch gleich wieder ein neues Spannungsmoment hinein, d.h. es kommt nur zu einer Teil-Auflösung.
Die Harmonien wechseln nun schneller, die Läufe sind kürzer. Bisher gingen die Läufe über zwei Takte, nun nur noch über gut einen halben Takt. Der Lauf in T. 9 folgt dem bisherigen Schema mit akkordeigenen und zusätzlichen Tönen. In T. 10 steht ein Dv (zweites Viertel). Der nächste Lauf mündet erstmals in die Tonika (T. 11, zweites Viertel). Die beiden hohen as'' auf dem dritten Viertel in T. 10 dienen sowohl als Vorhalte zu dem folgenden g'' als auch als Vorwegnahme der akkordeigenen As-Töne des f-Moll-Tonika-Akkords.
Der nächste Lauf (nach bekanntem Schema) mündet wieder in einen Dv (T. 12, zweites Viertel). Dieser Dv bezieht sich auf einen c-Moll-Akkord, der jedoch nicht voll eintritt. Die ersten vier Sechzehntel in T. 13 enthalten immerhin c' und es'. C-Moll entspräche der Moll-Dominante, die ich als solche in den Noten bezeichnet habe. Aber statt der wirklichen Moll-Dominante kommt die Tonika-Parallele, das ist ein As-Dur-Akkord. Hier könnte man also von einem Trugschluss sprechen (Dv führt nicht zur Moll-Dominante, sondern zur Tonika-Parallele).
Ab T. 13 drängt sich das Stück harmonisch und motivisch immer mehr zusammen. Die Läufe verkürzen sich auf ein Vier-Sechzehntel-Motiv vor jedem Harmoniewechsel (bis inkl. T. 15). Ein neues, drängendes Motiv, welches besonders durch das Eses charakerisiert ist, wird eingeführt und nimmt bereits das dominantische C der Schlussdominante vorweg bzw. betont schon hier dieses C. Die Tonika-Parallele in T. 13 führt durch halbtonweise Erhöhung der Quint (es – e – f) wieder zurück zur Tonika (T. 15, zweites Viertel). Ab T. 16 bleiben die Läufe bzw. Sechzehntel-Motive ganz aus und es folgen vier schnelle Harmoniewechsel, bevor das Stück im Akkord X (siehe unten) seinen Spannungshöhepunkt erreicht. Bemerkenswert ist die Verdichtung der Harmonien von T. 13 bis T. 16. In T. 13 und 14 wechseln die Harmonien noch taktweise, in T. 15 stehen bereits zwei, in T. 16 dann vier Harmoniewechsel.
Auf dem vierten Viertel in T. 15 steht ein Dominantseptakkord (auf der Sept), der sich auf den Tonika-Gegenklang bezieht. Der Tonika-Gegenklang folgt erst auf dem dritten Viertel in T. 16. Auf dem zweiten Viertel in T. 16 steht jedoch noch ein eingeschobener Dv, den ich in eckigen Klammern darüber geschrieben habe. Da dieser Dv hier ein bißchen „stört“, rein funktionslogisch gesehen meine ich, könnte man ihn vielleicht auch lediglich als einen Durchgangsakkord zwischen dem As-Dur-Septakkord und dem Des-Dur-Akkord sehen. Funktionsharmonisch ließe sich dies als Vorhaltakkord zum Tonika-Gegenklang erklären.
Es gibt aber auch noch folgende Möglichkeit. Man könne den As-Dur-Septakkord (ab dem vierten Viertel in T. 15) auch als nicht-dominantischen Akkord sehen. Die Sept (Ges) hätte dann keine dominantische Funktion, sondern stünde lediglich als hinzugefügter Zwischenton im Bass zwischen dem F (T. 15, zweites Viertel) und dem G (T. 16, zweites Viertel). Funktionsharmonisch wäre das dann die Tonika-Parallele mit hinzugefügter Sept. In T. 16, zweites Viertel stünde ein vollgültiger Dv, der sich allerdings nicht in die Tonika auflösen würde, sondern in einem Trugschluss in den Tonika-Gegenklang. Danach ginge es weiter wie von mir in den Noten bezeichnet.
Ab. T. 12 steht im Bass eine schön verbundene Linie: F – Es – E – F – Ges – G – As – B – Ces. Das erste F könnte man auch weglassen, dann wäre es eine (fast) durchgängig chromatisch aufsteigende Linie, die sogar noch bis zum dominantischen C am Schluss weitergedacht werden kann. Das Ges ist die oben benannte hinzugefügte Sept, deren Sinn sich aus der chromatischen Folge dieser Basslinie ergibt.
Was mir noch aufgefallen ist: Die hohen oktavierten Achtel in T. 16 (zweites, viertes, sechstes und achtes Achtel; von mir durch eine rote Linie verbunden) sind eine in die Länge gezogene Fassung des Vier-Sechzehntel-Motivs, das zuvor jeweils vor einem Harmoniewechsel aufgetreten ist bzw. überhaupt des öfteren in dem Prélude vorkommt.
So, nun zum Akkord X. Ich habe – bereits mit rauchendem Kopf über die Noten gebeugt – für diesen Akkord keine Lösung mehr gefunden. Beim Spielen am Klavier konnte ich den Sinn des Akkords aber hören, deshalb habe ich ihn kurzerhand als „Akkord X“ bezeichnet. Der Akkord steht von der Funktionslogik bzw. von der „Hörlogik“ her zwischen der Subdominante mit Sixte-ajoutée (T. 16, viertes Viertel) und einem dominantischen Quartsextakkord, der aber nicht vorkommt, sondern lediglich in dem tiefen C in T. 19 „mitgefühlt“ werden kann. Für mein Empfinden ist im Akkord X die Spannung des gesamten Stücks am Höhepunkt.
Danach rauscht ein Lauf in die Tiefe, bleibt auf dem tiefen F-Triller stehen und rasselt schließlich in den Sechzehntel-Triolen vollends hinunter zum tiefen C. Der letzte Lauf (T. 17, drittes und viertes Viertel) kommt als einziger Lauf des Stücks nur in der rechten Hand vor und folgt auch sonst nicht dem Schema der anderen Läufe. Die Spannung löst sich in den letzten beiden Akkorden des Stücks durch eine einfache Verbindung von Dominante und Tonika.
Ein Wort noch zu den anarchischen Elementen in diesem Prélude. Die ungezügelte Wildheit, die ich mit Anarchie assoziiere, kommt vor allem durch folgende Merkmale zum Ausdruck:
* Scharf dissonante Harmonien (z.B. T. 1).
* Weite Sprünge und ständige, unregelmäßige Richtungswechsel in den Läufen.
* Wucht und „Energie-Konzentration“ durch Unisono in den Läufen.
* Vollgriffige Akkorde nach Läufen immer erst auf der zweiten, normalerweise unbetonten Taktzeit.
* Praktisch völlig fehlende Melodik (und das in einem Stück der Romantik! Chopin war da schon ein Rebell, siehe auch den letzten Satz der 2. Klaviersonate).
* Das Eses-Motiv mit den folgenden C-Repetitionen. Eses nach As-Dur-Akkord, d.h. Eses nach Es und dann sogar nach E!
So, das wärs. Ich gebe zu, es war ein langer Text, hoffentlich habt ihr durchgehalten. Eine kleine Weisheit noch zum Schluss aus meinem unmittelbaren Erfahrungsschatz: Wer etwas auf dem Herd hat, sollte sich niemals ins Clavio-Forum einloggen und mit Chopin-Analysen beginnen, denn sonst raucht nicht nur der Kopf, sondern es nach einer Weile auch unangenehm aus der Küche... :| :D
Viele Grüße von
Fips