Hallo,
@River Flowing ,
hallo,
@Demian ,
wegen der inhaltlichen Überschneidungen in Euren Beiträgen adressiere ich meine Antwort an Euch gemeinsam.
Wir müssen begrifflich genauer werden, eh wir aneinander vorbeireden. Zur Etymologie und zur tieferen Bedeutung wird
@Ambros_Langleb mehr sagen können als ich, dessen Rest-Lateinkenntnisse sich auf Folgendes beschränken: s
tructura = Aufbau, Bauart, Mauerwerk. Das erlaubt mir eine elegante Überleitung zum musikalischen Strukturbegriff, und da müssen wir Form-, Motiv- und Intervallstruktur auseinanderhalten. Es ist auch bei genauestem Hören unwahrscheinlich, daß sich die Formproportionen einer Renaissance-Motette oder in den Werken Bartóks unmittelbar erschließen. Solche Formproportionen hatten etwas mit der Architektur des Uraufführungsraumes zu tun oder im weiteren Sinne mit der Schöpfungsordnung und dem an ihren Verursacher adressierten Lob. Für Bartók war der goldene Schnitt als Formprinzip ein Ersatz für den Wegfall der Strukturierung durch Tonartfolgen, Modulationspläne etc.
Die Hörbarkeit von Intervallstrukturen zum Zwecke der (raschen) Wiedererkennbarkeit eines Motivs, einer Melodie und deren Verarbeitung (was auch bedeutet: Änderung der Intervallstruktur) war zu gewissen Zeiten natürlich erwünscht, vor allem bei einem oberflächenphänomen-verliebten Publikum, aber für Komponisten nicht verpflichtend: Man denke an Liszt und die netten Rückmeldungen, die er anläßlich seiner h-Moll-Sonate zu hören bekam. Auch vormoderne Komponisten haben sich eher für die von Melodien, Motiven und Motivabspaltungen strukturierten Formverläufe interessiert, also für die Entwicklungslogik und nicht für das Medley-artige Präsentieren nachsingbarer Ohrwürmer.
Ich denke bei älterer Musik liegt der Fokus eben meist auf hörbaren Strukturen. Bei Neuer Musik habe ich den Eindruck, dass die unhörbaren Strukturen oft überwiegen.
Hörbar ist alles - innerhalb der physikalischen Grenzen. Was Du meinst, ist die Nachvollziehbarkeit des zu Hörenden. Was letztere betrifft, kann ich nur wiederholen: Kein Komponist erwartet vom Publikum, die Entwicklungslogik einer Komposition (oder beim Reihungsprinzip ihr Fehlen) unmittelbar nachzuvollziehen. Es gibt auch Musik, die den Hörer durch zu große Ereignisdichte planmäßig überfordert (Berg, Ives, Nancarrow). Da soll der Hörer erstmal nichts als seine Überforderung nachvollziehen.
Wenn der Großteil der Struktur jedoch nicht wahrnehmbar ist, so handelt es sich - aus Sicht des Hörers - um unstrukturierte Musik: Eben Beliebigkeit.
Nur wenn der Hörer sich einer Musik mit Vorurteilen oder ihr unangemessenen Maßstäben nähert. Man geht doch auch nicht ins französische Restaurant und beschwert sich dort über das Fehlen von Celtic Rock, Dart-Wurfscheiben und Guinness-Bier.
Selbst Bach, der wie kein anderer die Strukturebene in den Vordergrund stellte, ging es um Emotionen (bzw. Affekte), und damit um die Wirkungen seiner Musik.
Ich habe den Eindruck, bei Bach stand das Soli Deo Gloria im Vordergrund. An zweiter Stelle standen innermusikalische Probleme, deren Lösung ihn interessiert hat (er hätte es sich sonst einfacher machen können), an dritter Stelle - in seiner geistlichen Musik - der Verkündigungscharakter, und da spielt natürlich die Nacherlebbarkeit von Affekten eine große Rolle.
Im radikalen Serialismus trat jedoch die Wirkungsebene weit hinter der Ebene der Struktur zurück: Die Strukturen wurden zum Selbstzweck, weitgehend entkoppelt vom emotionalen Ausdruck.
Kein Wunder, Komponisten wie Goeyvaerts und Boulez waren ausgesprochen ausdrucksfeindlich, und das heißt: Ihre privaten Emotionen hatten in der Musik nichts zu suchen. Musik als unmittelbare Gefühlskundgabe (wie in der Romantik) war ihnen suspekt. Deshalb ist ihre Musik aber nicht unsinnig.