Liebe Chiarina,
was Du schreibst ist überhaupt nicht enervierend,
sondern Du triffst mit Deinem Beitrag ins Schwarze:
...dass ich Berührung und damit ein sehr verschieden geartetes Verständnis
von Musik nicht von Bildungsschichten abhängig machen würde...
Ich wollte kundtun, dass klassische Musik nicht nur etwas für Fachleute
oder Menschen aus den oberen Bildungsschichten ist.
Da in einigen der letzten Beiträge schon soziologisch argumentiert wurde,
greife ich die Anregung auf und frage: Hat das Bürgertum kein Klassenbewußtsein mehr?
Die abendländische Kunstmusik war einmal die Musik des Bürgertums.
Als das Bürgertum aufhörte, revolutionäre Kraft zu sein, imitierte es
zur Sicherung der Standesschranken gegenüber dem "niederen Pöbel"
adelige Gepflogenheiten: den Aufenthalt in der Sommerfrische, am Meer
(vulgo: Urlaub - sobald es sich ihn finanziell leisten konnte), die Jagd,
vornehmes Sprechen, gute Manieren, feine Kleidung und dem Besuch von Oper,
Theater und Konzertsaal incl. Klavierunterricht für die "höhere Tochter".
Der Pöbel unterhielt sich dagegen mit Tanzmusik, Gassenhauern, Potpurris
aus populären Opern - die Soziologie benutzt dafür den verächtlichen Begriff
"herabgesunkenes Kulturgut" - später auch aus Operetten und Musicals.
Nach dem ersten Weltkrieg in den USA und nach den zweiten Weltkrieg
auf dem Rest der Welt wurde die Tanzmusik afroamerikanischer Provenienz
vorherrschend. Man muß sich das in Erinnerung rufen:
Rock 'n' Roll war einmal rein proletarische Musik, in England ist das heute noch sichtbar -
die (bei uns als neonazistisch verdächtige) Oi!-Musik ist ein Vergnügen der Arbeiterklasse.
Nicht zu vergessen - ursprünglich waren Blues, R+B und Rock 'n Roll
die Musik der unterdrückten "schwarzen" Minderheit, ehe sie von der
weißen Unter- und Mittelschicht adaptiert wurden.
Aber heute? Für das Bürgertum hat nicht mehr die Aristokratie Leitbildfunktion,
sondern genau der niedere Pöbel, von dem es sich früher abheben wollte:
Es trägt Jeans, imitiert Unterschichten-Slang, benimmt sich ruppig und hört -
na was wohl? - Mainstream-Pop. Ob die Hintergründe dieses Leitbildwechsels
schon soziologisch erforscht sind, weiß ich nicht. Als Ursache vermute ich:
Die nach wie vor vorhandenen Standesschranken deutlich zu zeigen -
das ist tabuisiert, das Bürgertum ist vorsichtig geworden, es betreibt Mimikry.
Nur auf
einen Unterschied legt es wert: auf die Anzahl der Nullen vor dem Komma -
bei der Lektüre der monatlichen Kontoauszüge.
Was folgt aus diesem überlangen historischen Exkurs? Ich glaube,
daß sich das Bürgertum in Konzerten größtenteils nie anders verhalten hat
als die beiden Pelzmantel-Damen, von denen Du berichtest.
Wer Musik als Standes- oder Statussymbol behandelt, der liebt sie nicht,
dem bedeutet sie nichts, und sie kann ihn auch nicht beschenken.
Ich glaube, daß es ernsthafte Beschäftigung mit Musik ("klassisch" oder sonstwie)
seit eh und je nur bei einer hoffnungslos kleinen Minderheit gibt -
quer durch alle Schichten.
Ich glaube, man muss Zugang zu seinen Gefühlen und den Gefühlen anderer haben, man muss sich in gewisser Weise konzentrieren und zuhören können, man muss offen für neue Dinge sein ...
Da widerspreche ich Dir - oder bestehe auf einer
Ergänzung:
Musik ist eine Form der Erkenntnis - der begriffslosen Erkenntnis,
wie es so schön heißt. Sich Musik nur über das Gefühl erschließen zu wollen -
das wäre defizitär. Wir werden von Musik unendlich reich beschenkt,
wenn wir ihrem diskursiven Verlauf folgen - als Spielende, Lesende oder Hörende.
Und hier schließt sich der Kreis zur "Comptine d'un autre été":
Es gibt dort nicht mal einen Ansatz von Diskursivität, nur Aneinanderreihung, permanente Wiederholung
unplastischer Melodiefloskeln, einfachster Harmoniefolgen, starrer Bewegungsmuster -
Inbegriff dessen, was Hanns Eisler das "musikalisch Dumme" genannt hat.
Herzliche Grüße!
Gomez