hallo Chiarina,
nach Deiner sehr witzigen und humorvollen (was ich sehr schätze!!) Antwort zuvor, interessiert mich Deine Ansicht hierzu.
herzliche Grüße, Rolf
Hallo Rolf,
aber gern! :)
Ich finde, du verwechselst Gefühle mit den daraus möglichen Handlungen. Ethische Normen und Gesetze gelten ausschließlich für Handlungen, wobei auch schon eine bloße verbale Aussage eine Form der Handlung darstellen kann.
Ich bin davon überzeugt, dass man durch die Betrachtung und Wahrnehmung eines Gefühls den Ursachen für dieses Gefühl auf die Spur kommen kann. Und nur dadurch!
Auch wenn das Zitat etwas lang ist, würde ich es hier gern bringen, weil es die Arbeitsweise der Gesprächstherapie grob skizziert.
Ziel der Gesprächspsychotherapie ist,
das Erleben zu vertiefen, das heißt die
Gefühle und Gedanken zu erkunden,die
hier und heute auftreten,wenn man die
Vergangenheit lebendig werden lässt.
Zum Beispiel dachte Julia B. in der Therapie
einmal daran,wie sie im Alter von
sechs Jahren mit ihrer Mutter in den
Nachbarort lief und die Mutter,dort angekommen,
etwas aufschreiben wollte.
Sie fragte die Tochter, ob sie einen Stift
habe, aber diese hatte keinen dabei. Die
Mutter schimpfte, man müsse als Sechs-
jährige einen Stift dabeihaben.Weil die
kleine Julia Angst hatte, einen fremden
Mann nach einem Stift zu fragen, ließ
die Mutter sie als „erzieherische Maßnahme
gegen Verklemmtheit“ in den
Ort zurücklaufen,um genau das zu tun.
Gisela Borgmann geht es im Sinne der
Theorie von Rogers darum, „das Erlebnis
von damals ins Hier und Jetzt zu holen
und gleichzeitig zu erforschen, welche
Gefühle und Gedanken sich heute
dabei einstellen. In der Therapie kam
an diesem Punkt eine sehr große Wut auf
die Mutter auf, wofür sich die Klientin
schämte, weil sie dachte, sie dürfe diese
Wut nicht empfinden.“ In der Sprache
von Rogers: Diese Wut war nicht Teil
ihres Selbstkonzeptes. Als Kind hatte sie
die Wut nicht fühlen dürfen,weil sie nie
wusste, was als nächste Reaktion von ihrer
Mutter drohte. So kam es zu einer Erfahrung
von Inkongruenz (siehe Kasten
Seite 40).
In der Therapie machte Julia B. eine
neue Erfahrung: Sie durfte fühlen, was
sie fühlte, und denken, was sie dachte.
So kam sie verlorenen oder verbotenen
Gefühlen und Gedanken wieder auf die
Spur. Jochen Eckert, Professor für Psychotherapie
an der Universität Hamburg,
sieht darin ein Wirkprinzip der
Therapie: „Indem der Therapeut auf
dem Weg der Empathie beim Patienten
Erfahrungen erkennt und benennt, die
dieser nicht mit seinem Selbstkonzept
vereinbaren kann, wird dem Patienten
die Möglichkeit eröffnet, bisher abgelehnte
Erfahrungen als die seinen anzunehmen
und in sein Selbstkonzept zu integrieren.“
Die Annahme bisher verbotener Gefühle ermöglicht es dem Patienten also, sich weiterzuentwickeln und neue Sichtweisen einzunehmen. Der Patient ist quasi bei dieser Kindheitserfahrung stehen geblieben - durch die Aufarbeitung verdrängter Gefühle kann er die Situation hinter sich lassen.
Gefühle haben ja immer eine Ursache, einen Grund. Diesem Grund kommt man nur auf die Spur, wenn man das entsprechende Gefühl genau wahrnimmt, betrachtet und nachempfindet. Anders geht es nicht. Und dann ist man diesem Gefühl nicht mehr so ausgeliefert, weil man weiß, woher es kommt. Allerdings kann man seinen Gefühlen eben nur auf die Spur kommen, wenn man sie wertfrei zulässt. Und da hakt es oft, weil wir schon in der Kindheit gelernt haben, dass bestimmte Gefühle unerwünscht oder verboten sind.
Aus all diesen Gründen finde ich es wichtig,
jedes Gefühl zuzulassen! Ich versuche jedenfalls, sehr achtsam mit meinen Gefühlen umzugehen. Ein Beispiel: ich halte mich schon für durchaus tolerant, aber nach den vielen Terroranschlägen und entsprechenden Artikeln in den Medien habe ich mich dabei ertappt, Vorurteile gegen Muslime zu haben. Ich war darüber sehr erschrocken, weil es nicht zu meinem Selbstverständnis passt und fragte mich, woher kommt das. Und stellt fest, dass das ursächliche Gefühl einfach Angst war. Angst, auch in Deutschland könnte ein Anschlag erfolgen, Angst vor dieser so wenig greifbaren und relativ neuen Bedrohung. So muss ich jetzt nicht mehr sagen: 'Muslime sind allgemein potentiell gefährlich', sondern sage lieber das, was wahr ist, dass ich nämlich Angst habe vor dieser Bedrohung.
Ich gewinne also durch das Erkennen des Gefühls eine Erkenntnis über mich, meine Haltung etc..
Wenn jetzt ein Rechtsradikaler brüllt "Ich hasse alle Ausländer", so ist in diesem Zusammenhang diese Äußerung eines Gefühls eine verbale aggressive Handlung, die natürlich eine Grenzverletzung darstellt. Worte sind Handlungen, ganz besonders dann, wenn Personen und Lebewesen betroffen sind. Wenn der Rechtsradikale aber diese Worte in einer Therapie spräche, würde dieses Gefühl sicher ans Tageslicht befördert, von allen Seiten betrachtet werden etc.. So könnte derjenige den Grund für seine Ausländerfeindlichkeit und vor allen Dingen
die hinter dieser Haltung verborgenen Gefühle erkennen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass sich ein Rechtsradikaler nur noch auf den Hass fokussiert und andere Gefühle, die für den Hass verantwortlich sind, ausblendet. Irgendwer hat mal gesagt, dass Hass viel mit Angst zu tun hat. Und Angst wie auch Scham gehören immer noch zu der Sorte Gefühle, die unangenehm und unerwünscht sind, d.h. nicht zugelassen werden.
Alle Gefühle zuzulassen schafft m.M.n. Erkenntnis über sich selbst und andere. Was ich bei mir zulasse, lasse ich auch bei anderen zu. Dabei ist aber der Umgang mit diesen Gefühlen entscheidend (Handlungen).
Leider bin ich keine Therapeutin und Kommunikationswissenschaftlerin und kann nicht so fachlich versiert über dieses Thema sprechen, wie ich es gerne hätte. Aber ich hoffe, dass meine Haltung auch so rübergekommen ist.
Viele Grüße
chiarina
P.S.: Ein weiteres Beispiel für verdrängte Gefühle findet sich m.E. in den Erbstreitigkeiten vieler Familien. Was es da alles gibt!!! Für mich hat das viel mit verdrängten Kindheitserlebnissen (Konkurrenz und Eifersucht unter Geschwistern, der hat früher schon immer mehr bekommen ..... ).
P.S.S.: Ach, hier noch der link zum Zitat:
http://www.gwg-ev.org/cms/cms.php?fileid=280
P.S.S.: hier noch ein weiterer link zum Thema Kommunikation und Gefühle (Rosenberg geht davon aus, dass hinter Gefühlen Bedürfnisse stehen, hinter negativen Gefühlen also unerfüllte Bedürfnisse)://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/gewaltfreie-kommunikation-rosenberg.shtml