...daß sie sich an alles klammert, was in der Kunstmusik verpönt ist: identische Formteile, weitgehend homophoner Satz,
undurchbrochene Oberstimmenmelodik, gleichförmige Begleitstimmen, einfache rhythmische und klare tonale Verhältnisse.
Als angewandte Musik, zum Beispiel für den Tanz, hat sie Gebrauchscharakter, was noch längst nicht gegen sie spricht:
Ihren Reiz bezieht sie aus der Prägnanz ihrer Melodien, der Übersichtlichkeit ihrer Formanlage, der Betonung der Zählzeiten.
Es fällt aber auf, daß die "Comptine" auch die Standards guter Unterhaltungsmusik unterläuft...
...und das würde ich gerne noch einmal vertiefen.
Was die "Comptine" ihren Hörern objektiv antut, worauf sie sie einschwört -
mit der beständigen Wiederholung der immergleichen Viertaktgruppe
und der Belanglosigkeit des Materials in der rechten Hand - dazu läßt sich noch etwas sagen.
Es gibt Stücke, bei denen man nur wenige Takte der Instrumentaleinleitung zu hören braucht,
um sie identifizieren zu können: bei "The Girl from Ipanema" oder "Over the Rainbow" zum Beispiel -
bei manchen Stücken reicht der Anfangsakkord, wie etwa bei "A Hard Day's Night".
Es gibt Stücke, die selbst durch lieblos-schlechte Cover-Versionen nicht kaputtzukriegen sind.
Man nennt sie Evergreens. Wenn ich so ein Stück Musik unerwartet - nach Jahren/Jahrzehnten - wiederhöre,
befällt mich oft ein sanfter Schauder - als ob etwas Überzeitliches in mein Leben dränge.
Vermutlich ist kaum eines der Stücke, die wir als Evergreens kennen, auf den Erfolg hin konzipiert worden.
Beim "Girl from Ipanema" saßen Jobim und sein Textdichter einfach an einem Tisch im Straßencafé,
sahen eine schöne Frau vorübergehen und hatten plötzlich die poetische Idee für Text und Musik.
Ein sogenannter Welt-Hit wie "Die Moritat von Mackie Messer" ist zufällig entstanden. Weill hat sie -
das berühmteste Stück aus der "Dreigroschenoper" - aufgrund aufführungspraktischer Schwierigkeiten
nachträglich hinzukomponiert.
Obwohl es in Zeiten der noch bestehenden Systemkonkurrenz zwischen Ost und West
nicht opportun war, darüber zu reden - aber der Westen hat das planwirtschaftliche Modell
vom Osten adaptiert und seinen Bedürfnissen angepaßt, und zwar aus naheliegenden Gründen:
Nichts ist einem Kaufmann so verhaßt wie die Fehlinvestition.
Er möchte den Erfolg planen.
Auf die Kulturindustrie bezogen heißt das: Die Anzahl der Retortenbands nahm zu,
deren Aussehen am Ideal bereits erfolgreicher Gruppen orientiert war
und auf deren normiertes Erscheinungsbild hin Songs komponiert und arrangiert wurden,
deren Machart das Substrat bereits vorhandener erfolgreicher Songs war.
Das ist ein Wesensmerkmal von Tiersens "Comptine". Sie kann gar nicht abwarten,
sich über Jahre oder Jahrzehnte hinweg zu einem erfolgreichen Stück zu entwickeln,
sie nimmt die Abkürzung und will schon beim ersten Hördurchlauf klingen wie ein Evergreen.
Diese Absicht schlägt sich im "musikalischen Formverlauf" nieder, in der einhämmernden Dauerwiederholung.
Damit ist sie natürlich ein verläßlicheres Investitionsobjekt.
Das erinnert mich an ein schönes Lied von Karl Dall - aus seinen besseren Tagen:
Diese Scheibe ist ein Hit -
wann kriegt ihr das endlich mit?
Diese Scheibe müßt'er koofen,
es ist 'ne Scheibe für die Doofen.
Ich überlasse Karl Dall das Schlußwort.
http://www.google.de/url?q=http://w...uAIwAA&usg=AFQjCNF9u-0VIxCACRluzP6sS_l2APoskw
Gruß, Gomez
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