'n Abend, Hasenbein!
Was Du zum Thema Regelverstoß schreibst, gefällt mir -
sofern es nicht gerade meinen Widerspruch hervorruft.
Tonsatzregeln wurden immer erst im Nachhinein von Analytikern "entdeckt",
so daß es ermöglicht wurde, bestimmte Musikstile zu kodifizieren...
Das stimmt nur teilweise. Beispiel: Johann Joseph Fux kodifiziert in seinem "Gradus ad Parnassum"
die Regeln des Palestrina-Kontrapunkts - weit über hundert Jahre nach dem Verschwinden
der Renaissance-Polyphonie. Sein Lehrbuch vermittelt wenig von der Eigenart dieser Musik -
die eben nicht bei Palestrina, sondern bei den frankoflämischen Komponisten der Generationen
davor anzutreffen ist. Fux überliefert nur einen harmonistischen Abklatsch davon.
Was aber nicht heißt, daß sich die Franko-Flamen keiner Regeln bewußt gewesen wären -
die heute noch bekannteste betrifft den Umgang mit dem "diabolus in musica", dem Tritonus.
Es gab einen aus den Noten oder Stimmbüchern ersichtlichen Regelkanon,
der von Generation zu Generation tradiert wurde und zu intertextuellen Bezügen
zwischen den Werken und zu kleinen Wettstreiten zwischen den Komponisten führte:
z.B. wer auf der Grundlage des "L'homme armé"-cantus firmus noch verrücktere
Spiegelkanon-Exzesse veranstalten konnte.
Da heute totaler Stilpluralismus herrscht, gibt es keine Regeln, gegen die man "verstoßen" könnte.
Es gibt höchstens Regeln, denen sich ein Komponist freiwillig unterwirft, um seine Kreativität anzuregen.
Das ist richtig - aber auch wieder nur bedingt. Der Komponist unterwirft sich
nicht willkürlich irgendwelchen Regeln. Wenn er sich in der Pluralität der Stile
für ein bestimmtes Idiom entscheidet, diktiert das Idiom ihm die Einhaltung eines Regelkanons,
gegen den er natürlich zu Kreativitäts-Steigerungszwecken rebellieren kann.
Ob er aber einen vierstimmigen Satz für Männerchor schreibt oder ein serielles Orchesterstück mit Live-Elektronik -
die Besetzung gibt das zu verwendende Material und das Material die Regeln für seinen Gebrauch vor.
Der Männerchor würde rebellieren, wenn man ihm chromatische Cluster abverlangt,
das Neue-Musik-Ensemble und seine Zuhörerschaft würden rebellieren,
wenn nichts als I-IV-V-Kadenzen zu hören wären.
Ein guter Komponist würde vielleicht gegen die Erwartungshaltung absichtlich verstoßen,
damit aber wieder nur einer anderen Regel der musikalischen Avantgarde gehorchen:
der Verpflichtung zum Regelverstoß, zum Tabubruch.
Daher ist jegliches Reden von "verstoßen" (oder "gut verstoßen")
im Zusammenhang mit Comptine oder anderen Popstücken fehl am Platz.
Das weiß ich nicht - ist im Zusammenhang mit der "Comptine" aber ohnehin irrelevant,
weil sie sich, wie nun schon mehrfach beschrieben, an die Gattung "lyrisches Klavierstück"
so sehr anlehnt, daß sie sich auch an den Tonsatzregeln dieser Musik messen lassen muß.
Gruß, Gomez