Mir ging es darum, daß sich die zum Teil sehr verstiegenen Diskussionsbeiträge
aus dem anderen "Comptine"-Thread am Notentext belegen lassen müßten,
z.B. die Behauptung, dieses Musikstück Tiersens sei ein Beitrag zur "Volksverblödung".
Eine "Verblödungsabsicht" hier an Hand des Notentextes nachzuweisen
muss scheitern.
Möglicherweise ist dir die Unmöglichkeit dieses Nachweises in diesem Faden,
nämlich dass die Comptine auch ein Teil der Verdummungsstrategie darstellt,
längst bewusst...
Der Unmöglichkeit dieses Nachweises bin ich mir
nicht bewußt. Ich hätte das Thema sonst gar nicht angesprochen.
Allerdings gebe ich zu, daß mir die Arbeit nicht ganz geheuer ist. Es wäre mir recht gewesen, wenn sich ein anderer
bereiterklärt hätte, sie zu erledigen.
Es ist ein bischen wie bei Kleist - in diesem Fall: die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben.
Ich weiß nicht, wohin sie mich treibt, aber ich lasse mich treiben - - und beginne mit einem Exkurs.
Eines der Haupt-Wesensmerkmale der abendländischen Kunstmusik ist ihre Diskursivität - und deren Voraussetzung:
die Sprachähnlichkeit der Musik. Ihre Themen werden als sprechend empfunden, Gegenthemen als Einspruch,
der Themen (und Tonarten-)Dualismus als ein auskomponierter Konflikt - und der dafür vorgesehene Austragungsort: die Durchführung.
Schon bei Haydn hat das Durchführungsprinzip nicht nur den Sonatenhauptsatz, sondern auch den langsamen Satz,
das Menuett und das Finalrondo geprägt. Der Anteil an motivisch-thematischer Arbeit stieg kontinuierlich -
und mit ihm eine zunehmende Differenzierung im Harmonischen: weg von den Hauptstufen, weg vom elementaren Kadenzieren.
Die Entwicklung der abendländischen Harmonik kann beschrieben werden als ein immer länger andauerndes Hinauszögern
der Kadenzbewegung. Ferner eine Differenzierung im Satztechnischen: weg von der Oberstimmenmelodik, in der durchbrochenen Arbeit
Wechsel der führenden Stimme quer durch alle Stimmlagen, Durchpolyphonisierung aller Stimmen bis hin zu realer Vielstimmigkeit.
Auffälligstes Merkmal dieser gesamten Entwicklung:
die zunehmende Aversion gegenüber dem wörtlich Wiederkehrenden.
Themen bleiben nicht, was sie bei ihrem ersten Auftreten gewesen sind, ihr harmonisches Umfeld ändert sich,
Kontrapunkte treten hinzu. Die Themen ändern sich, so wie wir uns ändern, altern, verwandeln und doch identisch bleiben.
Populärer Musik vorzuwerfen, daß sie von alledem nichts oder nur wenig kennt, wäre albern. Es ist aber eine Frage der Redlichkeit
festzustellen, daß sie sich an alles klammert, was in der Kunstmusik verpönt ist: identische Formteile, weitgehend homophoner Satz,
undurchbrochene Oberstimmenmelodik, gleichförmige Begleitstimmen, einfache rhythmische und klare tonale Verhältnisse.
Als angewandte Musik, zum Beispiel für den Tanz, hat sie Gebrauchscharakter, was noch längst nicht gegen sie spricht:
Ihren Reiz bezieht sie aus der Prägnanz ihrer Melodien, der Übersichtlichkeit ihrer Formanlage, der Betonung der Zählzeiten.
Der idealtypische Hörer von Kunstmusik muß den musikalischen Verlauf mit wachen Sinnen verfolgen, wenn er nicht leer ausgehen will.
Dem idealtypischen Hörer populärer Musik reichen der Wiedererkennungswert eines Stückes - als Projektionsfläche für Gefühle aller Art -,
eine charakteristische Melodie und die Tanzbarkeit.
Es fällt aber auf, daß die "Comptine" auch die Standards guter Unterhaltungsmusik unterläuft -
wie macht sie das, und was macht sie mit ihren hörenden oder klavierspielenden Liebhabern?
Die in der linken Hand 13 x wörtlich zu wiederholende Viertakt-Gruppe dient der beständigen Bestätigung des Vertrauten.
Spieler und Hörer müssen keine Angst vor dem imprévu haben. Ist also die Entdeckung von etwas Unvertrautem angstbesetzt?
Seit der Romantik drückt sich die Invidualität in der Melodik aus - in einem singulären Thema, das Privateigentum des Komponisten ist.
Die schwache melodische Erfindung nimmt der "Comptine" das beste, was sie haben könnte, ihr Charakteristisches:
die Individualität. Ist das Absicht? Die spannungslose Harmonik, die mißklingende Setzweise tragen zu dieser Entindividualisierung bei.
Einübung in das regelmäßig Wiederkehrende, Bestätigung des Vertrauten, Entindividualisierung sind Merkmale heutiger Arbeit.
Als Gegengift gegen diese Mechanisierung, gewissermaßen zur Verschleierung, sucht die "Comptine" das Gefühlige -
darum die Anlehnung an das lyrische Klavierstück, die sich nicht in gattungsspezifischer Satztechnik, sondern
im Zitat des Klaviertones
an sich zu erkennen gibt. Das Klavier hat für heutige Maßstäbe etwas Vorweltliches. Als berühmtestes Möbelstück des 19.Jahrhunderts
steht es im kollektiven Bewußtsein heute für den Ernst des Lebens, für das Erwachsene, Momente der Reflexion, Trauer, Schwermut.
In jedem zweiten Film wird die Klavier-Klangfarbe so eingesetzt, wobei es nebensächlich ist, was an Musik erklingt.
Tiersen partizipiert daran. Die "Comptine" setzt den verdinglichten Menschen voraus - oder versucht, ihn zu erschaffen.
Gleichzeitig will sie ihn mit Gefühligkeit darüber hinwegtrösten, was sie ihm antut.
Der einzelne Hörer/Spieler dieser Musik wird damit nicht beurteilt. Er ist ohnehin das Opfer, denn ihm wird eine Bedürfnisbefriedigung
versprochen und zugleich verweigert - da hat sich seit den Tagen der guten alten Schlager-Analyse nichts geändert.
Leute, ich kann nicht mehr - es ist 4:50, und mir fallen fast die Augen zu. Heute mache ich mit Frau und Kind einen Tagesausflug.
Ich sollte noch ein wenig schlafen. Zerpflückt den Text oder - wer will - spinnt den Faden weiter!
Gruß, Gomez
-