"...ist das überhaupt ein Zyklus?" (Rolf)
Ein Zyklus ist es gewiß, da er ja als solcher herausgegeben wurde. Daß Chopin dabei daran gedacht hätte, daß er auch zyklisch aufzuführen sei, darf man allerdings kaum annehmen. Andererseits ist gegen die zyklische Aufführung auch nichts einzuwenden, außer daß die nächste vollständige Aufführung die vielleicht 54321. wäre... Man kann also getrost auch nur eine kleine Auswahl ins Programm nehmen, meinetwegen auch das "Regentropfen"-Prélude, wogegen wiederum nichts einzuwenden wäre, außer daß dann auch das b-moll-Prélude folgen MÜSSTE, weil Chopin "attacca" vorschreibt, und außer daß es dann die 654321. Auführung wäre...
(Ich habe einmal Jorge Bolet das Regentropfen-Prélude als Zugabe spielen gehört. Die Leute wollten nach den versäuselnden Schlußakkorden schon ergriffen klatschen, als er dann unerwartet die agressiven Einleitungsakkorde des b-moll-Prélude in die wohlige Stimmung knallte -- ein schöner Zugabe-Effekt.)
"der Effekt, das Prelude in F-Dur mit der kleinen Septime am Ende zu färben, findet sich auch in den Kinderszenen." (Rolf)
Die Sept im F-dur-Prélude von Chopin und die Sept im "Bittenden Kind" von Schumann sind nicht dieselben. Das "Bittende Kind" steht in D und endet auf der Dominante mit der Sept. Im folgenden "Glückes genug" (man beachte die zusammenhängenden Titel beider Stückchen!) wird der Akkord wieder aufgegriffen und führt in die Tonika D-dur. Bei Chopin ist der Ton aber keine Dominantsept, sondern tatsächlich eine Tonika-Färbung, gewissermaßen eine "blue note", und wird nirgends weitergeführt. Gelegentlich muß die Stelle in Harmonielehren herhalten als ein Beispiel für die Ableitung des Septakkords aus dem 7. Teilton.
Eigentlich bemerkenswerter als Schumanns Sept, die offensichtlich zum nächsten Stück leitet, ist der Schluß im e-moll-Stückchen "Kind im Einschlummern", das auf der Subdominante in a-moll endet. Sicher zufällig, aber doch auffällig, ist die Gemeinsamkeit mit Chopins a-moll-Prélude, das ebenfalls in e-moll beginnt und in a-moll endet. Aber während Schumanns Schluß überraschend ist, ist Chopins Schluß eine Allerwelts-Kadenz.
Zu diesem Thread insgesamt:
Das Hinzufügen von Funktionsbezeichnungen ist noch keine "Analyse". Aber es ist eine nützliche Fingerübung, und der Eifer, mit dem sie hier geschieht, ist lobenswert, weil er Interesse ausdrückt.
Das Schöne an der Funktionstheorie ist ja ihre Beliebigkeit, denn man kann jedem Akkord mindestens einen Namen geben, egal wie weit entfernt er von der Ausgangstonart ist. So darf man sich einbilden, einen harmonischen Zusammenhang "analysiert" zu haben. Allen 12 chromatischen Stufen kann man in jeder beliebigen Tonart eine oder mehrere Funktionsbezeichnungen zuordnen. Versuchen wir's in C-dur:
C-dur: T
c-moll: t
Des-dur: sn, sG
des-moll, bzw. cis-moll: sg
D-dur: DD
d-moll: Sp
Es-dur: dG, tP
E-dur: DP, TG, D[Tp]
F-dur: S
Fis-dur, bzw. Ges-dur: sn
, TP[Tp]
fis-moll: Tp[Tp]
G-dur: D
As-dur: tG, sP
as-moll: tg, sp
A-dur: TP, SG, D[Sp]
a-moll: Tp, Sg
B-dur: SS
b-moll: ss
H-dur: D[Dp], DG
h-moll: Dg
Da das in C-dur geht, geht es entsprechend in allen anderen Dur- und Molltonarten. Wie wenig damit gewonnen ist, kann ermessen, wer einmal versucht hat, z.B. Chopins e-moll-Prélude zu "analysieren", das entstand, bevor es die Funktionstheorie gab, und dessen Harmonik durch solche Bezeichnungen nicht erklärbar ist. Komponisten haben offensichtlich anders gedacht.
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Jörg Gedan
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