"Es gibt doch Préludes von Chopin, die ein ähnlich 'niedriges Niveau' haben wie die 'popeligen Tiersen-Stücke'..."
Stilblüte, kennst du die Préludes wirklich? Es ist wahrlich kein popeliges darunter, und auch die wenigen leichten (die meisten sind nicht leicht) haben kein niedriges Niveau. Man mag über die Einschätzung von Werken durchaus verschiedener Ansicht sein, aber der Ansicht, daß es "popelige" Chopin-Préludes gäbe, kann man nun wirklich nicht sein, wenn man sie kennt, insofern geht das wirklich unter die Gürtellinie. Die Préludes gehören zu den wertvollsten Stücken Chopin's, jedes ist in seiner Art einzigartig, jedes erfindet eine eigene Art des Klaviersatzes, und insgesamt sind sie nicht weniger originell als Debussy-Préludes. Wie man diesen Reichtum der Ärmlichkeit Tiersens gleichsetzen kann, verstehe ich nicht. War das jugendliches Ungestüm oder einfach nur eine Vermutung aufgrund mangelnder Kenntnis?
Wenn du die beiden Youtube-Links als Beurteilungsgrundlage nimmst, haste allerdings recht: Das ist tatsächlich gespielt, als wäre es von Tiersen, und dümmer kann man's nicht mehr spielen. Aber ob man das dem Chopin anlasten kann?
Jeder darf alles hören und alles spielen und alles für sich gut finden. Ich entsinne noch ganz gut und etwas verschämt, für welch hohles Zeugs ich mich selber als Teenie bisweilen begeistern konnte, ich habe dafür genauso Verständnis, wie ich akzeptiere, daß ich kleinen Kindern nicht mit Bach-Fugen kommen kann. Der Unterschied ist allerdings, daß ein anspruchsloses Kinderstückchen trotz seiner Einfachheit immer noch Wahrhaftigkeit haben kann, während Tiersen-Gedaddel nicht auf die Zielgruppe schielt, sondern auf den billigen Erfolg -- oder doch auf eine bestimmte Zielgruppe, nämlich die, bei der man am billigsten Erfolg hat. Der Erfolg gibt ihm leider recht.
Mit "Komplexität" hat Qualität nichts zu tun. Einfaches wie Komplexes kann Qualität haben -- kein Lied ist einfacher gestrickt als Schuberts "Leiermann", aber kein Lied schielt weniger auf den Erfolg, aber umso mehr auf Wahrhaftigkeit des Ausdrucks ohne billige Maschen. Dürftigkeit und Oberflächlichkeit haben in keinem Fall Qualität, Tiersens Maschen auch nicht. Man mag das trotzdem mögen. Aber wo jeder ernstzunehmende Musiker abwinkt: "ach, dieses hohle Geklimper", versuche man nicht, mangelnde Qualität gegen das Urteil von Fachleuten zu verteidigen. Man genieße es, wenn man kann, schweige aber lieber stille und mische sich in Qualitätsfragen besser nicht ein. Ob Urteile über Qualitätsunterschiede faßbar oder immer nur subjektives Empfinden sind, darüber mag man unentwegt streiten, aber wenn sie nur subjektives Empfinden sind, dann sind es keine qualifizierten Urteile mehr. Unfaßbar wird es erst dann, wenn Musik unfaßbar blöd ist oder unfaßbar gut. Insofern ist Tiersens Musik unfaßbar. Das ist der eine Punkt.
Der andere ist: Es hat die Halbseidenen immer schon gegeben, und das wohl erfolgreichste dümmliche Stück der Klaviergeschichte war das "Gebet einer Jungfrau", eine Art Tiersen-Gedaddel des 19. Jahrhunderts (allerdings spieltechnisch im Vergleich zu Tiersen schon fast anspruchsvoll). Das könnte man denn eher schon mit dem Tiersen-Gedaddel vergleichen als Chopin-Préludes. Ca. 150 Jahre später finden selbst Tiersen-Fans das Stück blöd. Warum? Weil es noch blöder ist als Tiersen? Nein, weil es dem Zeitgeschmack nicht entspricht, denn es benutzt andere Kadenz-Klischees, es ist so halbseiden wie Tiersen, aber es frönt der falschen, nicht mehr aktuellen Mode. Und in 100 Jahren wird man finden, daß Tiersen nicht dem Zeitgeschmack entspricht und darum blöd ist. Und alle werden das so finden, nicht nur die, die's beurteilen können.
Der dritte Punkt ist: Nie waren die Halbseidenen in den Medien so übermächtig wie heute. Dem mit gleichgültiger Toleranz zu begegnen, ist nicht jedem gegeben, und so müssen gewisse Emotionen erlaubt sein, und allemal ist es erlaubt, einen Schund "Schund" zu nennen, egal ob er "Gebet einer Jungfrau" heißt oder "Comptine d'un autre été". Aber, wie gesagt, jeder darf alles hören und alles spielen und alles für sich gut finden, und ich selber war auch mal 14...